In New York und Philadelphia eröffnet die erste Jasper-Johns-Retrospektive seit 25 Jahren. Die monumentale Werkschau rettet einen der wichtigsten Maler dieser Zeit aus einer Ecke, in die ihn die Kunstwelt vor Jahrzehnten gesteckt hat.

 

Süddeutsche Zeitung, 4. Oktober 2021  

Scott Rothkopf und Carlos Basualdo sind ein eher ungleiches Paar, schon äußerlich bildeten die zwei einen deutlichen Kontrast, als sie jüngst eine Gruppe von Reportern durch die Galerien des New Yorker Whitney Museum führten. Rothkopf, Chef-Kurator des Whitney, ist klein und spricht mit der Geschwindigkeit und Präzision des schlagfertigen New Yorkers.  Der große schlanke Argentinier Basualdo, Kurator für zeitgenössische Kunst am Philadelphia Museum of Art, neigt hingegen zum poetischen Schwelgen und pflegt, mitsamt Seidenschal und Filzhut, die Aura eines lateinamerikanischen Dandys.

Positiv gewendet würde man sagen, die beiden Männer ergänzen sich. Wenn Rothkopf etwa über die Jasper Johns Retrospektive spricht, die an diesem Mittwoch als Doppelausstellung am Whitney und an Basualdos Stammhaus in Philadelphia eröffnet, dann redet er gerne über kuratorische Entscheidungen, über die Hängung bestimmter Werke oder über technische Details, wie die konservatorisch heikle Befreiung einer von Johns‘ berühmten Flaggen aus ihrem spiegelnden Plexiglasrahmen.  Basualdo hingegen spricht lieber über Schwermut in bestimmten Stücken von Johns, wie etwa dem Taucher von 1962 und von der Transzendenz, die seine vermeintlich kalten, abstrakten Arbeiten ausstrahlen.

Es fällt bisweilen schwer, sich vorzustellen, wie diese beiden Männer mehr als fünf Jahre lang eng an einem der ambitioniertesten kuratorischen Projekte zusammengearbeitet haben, das nordamerikanische Kultureinrichtungen im vergangenen Jahrzehnt auf sich genommen haben. Gleichzeitig wird jedoch nachvollziehbar, warum sie sich von Anfang an auf das Thema der Spiegelungen und Dopplungen als roten Faden für die erste Johns-Retrospektive seit 25 Jahren einigen konnten.

Die Doppelausstellung ist eine einzige Übung in Komplementarität. Immer wieder betonen Basualdo und Rothkopf, dass die zweifache Retrospektive eine einzige Ausstellung sei, ein Werk kuratorischer Konzeptkunst gewissermaßen. Nur wer sich an der New Yorker Pennsylvania Station in den Zug setzt und auch die anderthalb Stunden lange Fahrt nach Philadelphia noch unternimmt, kommt in den vollen Genuss einer der gründlichsten Erforschungen des Werks eines lebenden Künstlers, die es je gegeben hat.

Gleichzeitig wissen Rothkopf und Basualdo natürlich genau, dass wohl nur die passioniertesten Johns-Liebhaber diese Beschwernis auf sich nehmen werden. Und so stehen beide Ausstellungen auch für sich -  unvollständig, aber in sich stimmig. Wie die beiden Kuratoren sprechen sie je ihre eigene Sprache, bieten einen je anderen Zugang zu Johns, ergeben aber zusammen ein facettenreiches Bild eines der produktivsten und wohl wichtigsten amerikanischen Künstler der Gegenwart.

Die New Yorker Show etwa beginnt mit einem eher unterbeleuchteten Aspekt des Werks von Johns: Mit seinen Drucken. Ganz der eher systematischen Neigung von Rothkopf entsprechend bekommt der New Yorker Besucher chronologisch rund zwei Dutzend Lithographien von Johns von 1962 bis hin zu einem noch nie gezeigten Druck aus dem laufenden Jahr gezeigt. In Philadelphia hingegen werden die Drucke in der allerletzten der zehn Galerien gezeigt und zwar als Neuauflage einer Ausstellung, die John Cage 1995 unter dem Namen Rolywholyover mit Hilfe eines Computer-Algorithmus arrangiert hatte.

Die Prinzipien der Komplementarität und Negativität ziehen sich durch die gesamte Doppelausstellung, in der das monumentale Volumen von 500 Werken zu sehen ist. Die zehn Themen, auf die sich die beiden Kuratoren geeinigt hatten und die von „Drucken“ über „Flaggen und Karten“ bis hin zu „Geografie“ reichen, werden je individuell interpretiert. Die Hoffnung dabei ist, der schier unüberschaubaren Komplexität eines vielschichtigen Oeuvres einigermaßen gerecht zu werden.

In der Standard-Geschichts-Schreibung der Nachkriegskunst wird Jasper Johns als Revolutionär geführt, als Künstler-Heros, der die Moderne auf eine neue Bahn gelenkt hat. Als der Kunsthochschul-Abbrecher und Armeeveteran Johns Mitte der 50er Jahre nach New York kam, war der abstrakte Expressionismus die Lingua Franca der Gegenwart. Jackson Pollock und Willem de Kooning waren die Stars der New Yorker Szene, nach der damals die Welt schielte.

Doch Johns hatte nur begrenztes Interesse an dem grandiosen Ausdruck innerer Welten, der „AbEx“ pflegte. Johns interessierte sich mehr für Marcel Duchamp, Josef und Anni Albers sowie für die Arbeit seiner Freunde John Cage, des Choreographen Merce Cunningham und natürlich seines Liebhabers Robert Rauschenberg.

Gemeinsam, so geht die Mythologie weiter, zettelten Rauschenberg und Johns in den nur sieben Jahren ihrer Verbindung eine Rebellion gegen den abstrakten Expressionismus mit einer Kunst an, für die es bis heute keinen richtigen Namen gibt. Erste unbeholfene Beschreibungen sprachen damals von Neo-Dada, später ordnete man ihn als Proto-Konzeptionalisten oder als Pop-Art Vorläufer ein.

Fest steht, dass die erste Ausstellung von Johns in der Galerie von Leo Castelli in New York im Januar 1958 für einen Erdrutsch sorgte. Sein „Target with Four Faces“ wurde auf der Titelseite der Zeitschrift „Art News“ abgebildet. Alfred Barr, der legendäre Direktor des Museum of Modern Art kam persönlich in die Galerie und kaufte Zielscheiben und Flaggen für insgesamt über 3000 Dollar.

Rauschenberg, Johns und ihr Kreis boten damals eine ganz neue Art und Weise an, über Kunst nach zu denken, eine, die Zeichen und Zeichenhaftigkeit selbst reflektiert und dabei die Materialität des Werkes in den Vordergrund stellt. Die ikonischen Fahnen und Zielscheiben, die jedem in den Sinn kommen, der schon einmal etwas von Johns gehört hat, schienen auf etwas Profundes zu verweisen. Das Signifikat blieb jedoch kryptisch, das Verhältnis zwischen Zeichen und Ding endlos kompliziert. Der Expressionismus erschien vor diesem Hintergrund plötzlich pompös, der Weg zur unterkühlten Kulturkritik von Warhol und Basquiat aber auch von Dan Flavin oder Donald Judd war geebnet.

Die meisten Historiographien bleiben an diesem Punkt stehen. Nach Johns Werkschau am Museum of Modern Art  1996 schrieb der New York Times Kritiker Michael Kimmelmann, Johns späteres Werk sei „obskurantistisch, frömmelnd und selbst-mythologisierend.“ Der New Yorker-Kritiker Peter Schjedahl beschrieb Johns nach einer Ausstellung im Jahr 2005 als „selbst imitierend und über-intellektualisiert.“ Mit den 70er Jahren, in denen seine Ideen aufgegriffen und weitergesponnen wurden, so schien der Konsens zu sein, habe Johns seine Relevanz verloren.

Die gegenwärtige Retrospektive, an der Johns laut Rothkopf und Basualdo engagiert aber mitnichten intervenierend mitgewirkt hat, ist da deutlich gnädiger. Anstatt die letzten 40 Jahre seines Schaffens ab zu tun, versucht sich das Kuratoren-Gespann mit Neugier an Johns Prozess an zu nähern ohne jedoch dabei zu beanspruchen, ihn letztgültig zu verstehen oder ihm einen Stempel aufdrücken zu können.

Der Verzicht auf das große Narrativ macht den Blick frei für die verschiedensten Strömungen und Themen im Werk von Johns, wie eben jene der Dopplung und der Spiegelung, die sich durch die gesamten 60 Jahre seines Schaffens ziehen. Ein Raum am Whitney erforscht diese anhand von den Doubletten „Racing Thoughts“ aus den 80er Jahren, an den komplementären Bildern „Mirror’s Edge“ aus den 90er Jahren aber auch den farblichen negativen Studien zu „Regrets“ aus dem Jahr 2012.

In Regrets ist der britische Maler Lucien Freud zu sehen, wie er, auf seinem Bett sitzend, sein Gesicht in Gram in seinen Händen vergräbt. Johns verfremdet dabei ein Foto von Freud mit Mustern und stellt es neben eine Verdoppelung in komplementären Farben.

Die Studien spielen jedoch auch noch auf ein anderes langjähriges Thema von Johns an – ein Pressefoto eines Vietnam Soldaten, der ebenfalls in Schmerz und Trauer den Kopf in den Händen versenkt. Auch von Variationen dieses Fotos hat Johns Dutzende von Drucken, Zeichnungen und Wasserfarben in komplementären Farben gefertigt.

Solche Stränge und Themen in Johns‘ Denken und Arbeiten auf zu spüren ist eine der großen Freuden dieser monumentalen Werkschau. Es öffnet den Blick auf das gesamte Werk eines der wichtigsten Künstler unserer Zeit und rettet ihn aus der engen Ecke, in welche die dominante Wahrnehmung der Kunstwelt ihn seit Jahrzehnten gesteckt hat.

Es ist wohl auch dieser Facettenreichtum, den die Doppelausstellung zeigt, der sie bislang vor der Kritik daran schützt, sich so ausführlich mit einem kanonischen und zudem weißen und männlichen Künstler zu beschäftigen. Johns eignet sich in seiner Komplexität und seiner Widerständigkeit gegen Einordnungen schlicht nicht zum Feindbild.

So kann er sich zu seinem 91ten Geburtstag nahezu universeller Zuneigung erfreuen. Ob ihn das kümmert, weiß man freilich nicht. Der Mann verschwindet auch heute noch gänzlich hinter seiner Arbeit. Zur Eröffnung am Whitney oder in Philadelphia ist er jedenfalls nicht angereist. Auf die Anfrage nach einem Kommentar zur Retrospektive durch seine Biografin Deborah Solomon sagte er nur lapidar: „Ich möchte nicht zitiert werden. Das war alles nicht meine Idee.“