David Zirin ist Sportkommentator des politischen Wochenmagazins „The Nation“. Zirin tut sich seit Jahren dadurch hervor, dass er den Zusammenhang von Sport und Politik in den USA kritisch beleuchtet. Jetzt hat er einen Dokumentarfilm über die Football-Liga NFL und die ideologischen Strömungen produziert, die den Football in den USA durchziehen.

Taz, 24.09.2022

Dave Zirin, Sie sagen, dass Sie ein enthusiastischer Football Fan waren, bevor Sie an der Universität eine kritische Distanz zu dem Sport aufgebaut haben. Können Sie sich heute noch zurücklehnen und einfach ein Footballspiel genießen?

Es ist für mich schon sehr schwer geworden, den Sport einfach zu genießen. Ich weiß zu gut, was alles hinter dem Produkt steckt. Ich weiß zu gut, was die Spieler durchmachen, um sich jeden Sonntag für das Spiel fit zu machen. Ich weiß zu viel über den Schmerz, der mit dem Spiel zusammenhängt. Trotz allem ist es natürlich noch immer eine formidable Form der Unterhaltung und vielleicht das einzige, was noch immer das ganze Land kulturell zusammen bringt. Wenn Sie die 20 am meisten gesehenen Fernsehsendungen aller Zeiten nehmen, dann sind 19 davon Super Bowl Finale. Football ist so allgegenwärtig, dass man als Journalist nicht daran vorbeikommt, vor allem nicht, wenn man, wie ich, über Sport und Politik schreibt. Wenn man Football nicht wahr nimmt, kann man nicht wirklich an unseren gesellschaftlichen Debatten teilnehmen.

Sie sagen, Football bringe die gesamte amerikanische Gesellschaft zusammen. Was ist es am Football, das wirklich alle Amerikaner anspricht?

Der Sport ist in vielerlei Hinsicht Amerika. Amerika hat mit großem Erfolg seine Kultur exportiert, egal ob man von Hollywood, Pop-Musik oder auch von Basketball spricht. Doch Football bleibt auf eine sture Art rein amerikanisch. Warum spricht Football Amerikaner viel mehr an, als Menschen in anderen Teilen der Welt? Ich denke, der Sport bildet auf grundlegende Weise die amerikanische Erfahrung ab. Oder besser – die weiße amerikanische Erfahrung von der Besiedlung und Eroberung des Kontinents und der Idee, dass man sich durch Gewalt beweisen und erneuern kann. Das ist seit den kolonialen Tagen der Kern der amerikanischen Mythologie. Es gibt in der Realität diese Eroberung und diese Erneuerung durch Gewalt seit Generationen nicht mehr aber die Nachfolgegenerationen der Siedler können das auf dem Footballplatz jedes Wochenende noch einmal durchleben. Football ist ein Substitut für den verlorenen amerikanischen Westen, für die „Frontier“, aber auch für alle anderen Kriege der amerikanischen Geschichte. In vielerlei Hinsicht ist Football eine pubertäre Vision des Krieges und somit durch und durch amerikanisch. Alles ist heroisch und glanzvoll aber es stirbt niemand. Im Fernsehen sieht man ja nicht einmal die Verletzungen, wenn ein Spieler sich weh tut, dann kommt die Werbepause.

Dieser Mythos der Regeneration durch Gewalt, den der Kulturkritiker Richard Slotkin schon in den 70er Jahren als Kern der amerikanischen Identität formuliert hat, bleibt also nach wie vor wirkmächtig?

Auf jeden Fall. Man muss sich ja nur die Anzahl der Waffen im Land anschauen oder die Art und Weise, wie das Land auf die vielen Schulmassaker reagiert. Dies ist ein Land, das gegenüber der Gewalt abgestumpft ist und egal wie sehr wir versuchen, diese Probleme in den Griff zu bekommen, sie scheinen immer mehr zu metastasieren. Ich denke Football reflektiert diese Akzeptanz der Gewalt.

Eine der zentralen Thesen Ihres Films ist, dass Football und Sport überhaupt immer schon politisch waren, dass es keinen unpolitischen Sport gibt. Wie würden Sie die Politik beschreiben, welche die NFL vertritt?

Ich bin froh, dass Sie die Frage so stellen. Wenn man sonst über Politik in der NFL spricht, dann wandern die Gedanken der Leute sofort zu Colin Kaepernick und zu den Spielerprotesten. Die Reaktion der Kommentatoren auf diese Proteste, die leider oft darin besteht zu sagen, „Haltet Euer Maul und spielt“, ist ja nur eine andere Art zu sagen, der Sport sei eigentlich apolitisch und diese politisierten Athleten würden das verderben. Aber die Realität ist natürlich, dass der Sport selbst eine sehr politische Entität ist. Die Politik, die der Football traditionell vertritt ist eine des Hypernationalismus, Hypermilitarismus und der Männlichkeit. Es geht darum, was einen echten Mann ausmacht. Und weil die NFL eine so mächtige kulturelle Kraft ist, ist es wichtig, dass wir das analysieren und dekonstruieren. Denn die Alternative ist, dass wir diese Botschaften einfach unkritisch schlucken. Dann sickern der Militarismus und die toxische Männlichkeit, die der Sport verkörpert, immer tiefer in unsere Kultur durch.

Wie hat sich diese Ideologie in diesem Sport festgesetzt? War sie von Anfang Teil des Football?

In seinen Anfängen im 19, Jahrhundert war der Football ein Werkzeug, um Studenten der Elite Universitäten zu echten Männern zu erziehen. Es gab nach dem Bürgerkrieg unter der herrschenden Klasse das Gefühl, dass es eine Krise der Männlichkeit gibt, weil junge Männer nicht mehr die Erfahrung der Eroberung des Westens und des Krieges hatten.  Das waren die Ursprünge des Sports und sie gingen einher mit vielen Todesfällen auf dem Spielfeld. Aber zum zentralen Bestandteil der amerikanischen Psyche wurde Football erst mit dem Anbruch des Fernsehzeitalters. Football ist wirklich der perfekte Sport für das Fernsehen. Das hat viele Gründe. Es gibt die Spielunterbrechungen, die perfekt für Werbepausen sind, es gibt das Überraschungsmoment, was wohl passiert, wenn der Ball aus dem Kamerablickfeld hinaus fliegt. In jedem Fall gibt es, als sich in den 50er Jahren das Fernsehen ausbreitet, plötzlich auch eine  massive Expansion des Footballsports.

In ihrem Film zeigen Sie, wie der Sport dann in den 60er Jahren zu einem Propagandawerkzeug für den Vietnamkrieg und für die Nixonregierung wird. Wie kam es dazu?

Das ist vor allem Pete Rozelle zu verdanken, der damals Commissioner der Liga war. Rozelle war der mächtigste Commissioner aller Zeiten. Er hat die Macht des Fernsehens erkannt, aber auch die Macht, die darin lag, sich mit dem amerikanischen Militär zu verbünden, anstatt mit der Gegenkultur. Als die Gegenkultur der 60er Jahre sich dann trotzdem in der NFL einnistete, stellte er sicher, dass sie so sehr entpolitisiert wurde, wie möglich. Man erlaubte lange Haare und buschige Kotletten aber keine freie Meinungsäußerung. Rozelle hat wirklich erkannt, wie sehr wir das Fernsehen lieben und wie sehr wir die Gewalt lieben und hat sich beides zunutze gemacht.

Die NFL hat also von Anfang an in dem Kulturkrieg, der Amerika bis heute zerreißt, Stellung bezogen.

Ja, deshalb räume ich in meinem Film auch einem eher unbekannten Spieler namens Dave Meggyesy großen Raum ein. Er hat seine Karriere damals aufs Spiel gesetzt, weil er es nicht ertragen konnte, dass die Liga den Vietnamkrieg unterstützt.

Und er wurde, genauso wie heute Colin Kaepernick, kalt gestellt.

Ja, die NFL hat eine lange Tradition, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Welches sind die Kräfte in der Liga, welche die monolithische, ultrakonservative Haltung tragen und durchsetzen?

Das sind ganz sicher die Teameigner. Das sind beinahe durchweg sehr konservative, sehr wohlhabende Männer. Pete Rozelle hat die Liga auf diese Spur gehoben, aber er hatte sehr reiche und einflussreiche Unterstützer.  Die NFL Besitzer repräsentieren das rechte Establishment der USA. Und weil die Teams meist innerhalb der Familien vererbt werden gibt es über die Jahrzehnte auch eine starke politische Kontinuität innerhalb des Sports.

Eine Art von Oligarchie.

Ja, in der Tat. Die Oligarchie der NFL ist eine sehr reale Sache. Und wie jede Oligarchie wird sie von Generation zu Generation intellektuell immer schwächer.

Sie schlagen zum Ende des Films einen hoffnungsvollen Ton an, dass sich der Sport doch wandeln kann. Verlieren die Besitzer an Macht?

Nun sie widersetzen sich dem Wandel, aber es gibt eben auch eine neue Generation rebellischer Athleten, die ein enormes Potenzial besitzen. Sie haben begriffen, was für eine formidable Plattform der Sport ihnen bietet. In dieser Hinsicht ist der Geist aus der Flasche. Die Tage, in denen Spieler einfach nur das Maul halten und spielen, sind endgültig vorbei.

Was hat sich verändert, dass Sportler nicht nur im Football, nach Jahrzehnten plötzlich aufstehen und ihre Meinung sagen?

Ich denke, dass Athleten sich von sozialen Bewegungen inspirieren lassen, das hat es in der Geschichte oft gegeben. Die Black Lives Matter Bewegung, deren Ausbreitung weltweit ist, hat die Spieler zutiefst verändert. Sie hatten ganz stark das Gefühl, um in einer Sport-Metapher zu bleiben, nicht nur an der Seitenlinie stehen zu können. Sie hatten das Gefühl, Teil dieser Bewegung sein zu müssen und sie empfanden eine starke Solidarität mit den Communities aus denen sie stammen und denen sie ihren Wohlstand verdanken. Aber es war nicht nur die Black Lives Matter Bewegung, es war auch die Verbreitung der sozialen Medien. Die Athleten konnten auf einmal die klassischen Medien umschiffen, die im Sport dazu neigen, sehr konservativ zu sein. Sie haben es als Befreiung empfunden, direkt mit den Fans sprechen zu können. Was man schließlich auch nicht vergessen darf, ist, das Courage ansteckend ist. Erst sagt ein Spieler etwas, dann ein zweiter und plötzlich hat man eine kollektive Stimme.

Man kann also die Wirkung von Colin Kaepernick gar nicht überschätzen?

Sein großer Beitrag war es, dass er für den Kampf um Bürgerrechte eine neue Methode des Protestes gefunden hat. Er hat durch seinen Kniefall Protest machtvoll, authentisch und wichtig wirken lassen und hat damit eine ganze Generation von Sportlern geprägt. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das alles schon sechs Jahre her ist, obwohl wir darüber reden, als sei es erst gestern gewesen. Es gibt Athleten, die damals 16 waren, die heute Profis sind. Für sie war Colin Kaepernick von Anfang an ein Vorbild.

Es gibt also eine ganz neue Generation von Sportlern mit einem neuen Selbstverständnis ihrer Rolle in der Gesellschaft.

Es wird sicher Rückschläge geben und nichts ist perfekt, aber, wie ich schon sagte, der Geist ist aus der Flasche und er lässt sich nicht wieder zurückdrängen.

Die NFL selbst bekannt sich ja nun auch immer mehr zu Inklusion und zu Bürgerrechten. Wie ernst darf man das nehmen?

Es ist das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche, das es gibt, seitdem es Bosse und Arbeiter gibt. Auf der einen Seite gibt es Leute wie Kaepernick und Megyessey, die die Peitsche bekommen. Auf der anderen Seite schreibt man „End Racism“ in die Endzone schreibt und  lässt Snoop Dogg bei der Superbowl auftreten. Doch dabei geht es letztlich nur darum, die Spieler davon abzuhalten, den Mund zu weit aufzumachen.

Aber im Kern hat sich die NFL nicht verändert.

Nein.  Sie sind nur in ihren Mitteln, mit Dissens umzugehen, raffinierter geworden.

Ist es für Sie immer noch der Litmustest für Veränderung in der NFL, ob irgendeine Mannschaft dazu bereit ist Colin Kaepernick auf den Platz zu stellen?

Er hat jetzt sechs Jahre nicht gespielt. Es wäre schon eines der unwahrscheinlicheren Comebacks in der NFL Geschichte. Nicht zuletzt auch, weil er für die NFL Besitzer, da, wo er jetzt ist, einen echten Wert hat. Er hält als warnendes Beispiel junge Spieler davon ab, sich aus dem Fenster zu lehnen.

Wenn wir über Kaepernick und Black Lives Matter reden, müssen wir auch über „race“ im Football sprechen. Sie argumentieren in ihrem Film, dass der Sport in seinem Kern zutiefst rassistisch ist.

In den Jahren 1930-1947 waren schwarze Spieler komplett von dem Sport ausgeschlossen. Das Ganze wurde voran getrieben von einem bestimmten Teambesitzer, der ein offener Rassist war, George Preston Marshall. Er weigerte sich für sein Team, die Washington Redskins, bis in die 60er Jahre, schwarze Spieler aufzustellen. John F. Kennedy hat ihn schließlich dazu gezwungen.

Wie das?

Das Washingtoner Stadion steht auf Land des Bundes. Kennedy hat gedroht, Marshall von dem Land zu jagen, wenn er seine Mannschaft nicht integriert. Das zeigt Ihnen, welche Sorte von Leuten in der NFL das Sagen hat.

Würden Sie sagen, dass die NFL in ihrem Kern eine rassistische Organisation ist?

Sie müssen sich doch nur anschauen, wer die Teams besitzt und wessen Körper zerstört werden. Es ist eine Liga, die zu 100 Prozent weißen Besitzern gehört und zu 70 Prozent schwarze Spieler hat. Es ist eine Liga, in der Besitzer Teams erben während Spieler schnell reich werden müssen, weil sie aus der Armut kommen und nur ein paar Jahre Zeit haben. Also gibt es hier einen Geruch der weißen Suprematie? Hat es etwas mit weißer Suprematie zu tun, wenn weiße Fans sich anschauen, wie schwarze Körper sich gegenseitig zerstören? Natürlich ist das eine Vereinfachung. Es gibt weiße Spieler, es gibt schwarze Fans. Aber im Kern ist etwas dran an dem Spektakel der Zerstörung schwarzer Körper zur Erbauung weißer Zuschauer.

Sie sprechen in dem Film davon das 100 Prozent der Spieler langfristige gesundheitliche Schäden davontragen. Wie kann man diesen Sport noch seinen Kindern empfehlen?

Das ist ja das erstaunliche. Die Popularität des Sports ist ungebrochen. Es gibt keinen wirklichen Aufstand gegen die NFL. Es gibt nur meinen kleinen Film. Aber ich glaube schon, dass die Leute langfristig von der NFL immer mehr angewidert sein werden. Von der Gewalt, von der Korruption, der Geldwäsche mit Staatshilfe. Der Sport wird von seinen Hardcore Fans so lange verteidigt werden bis es keinen Sport mehr gibt.