taz, 22.8.2023

Peter Brooks müsste eigentlich ein glücklicher Mann sein, doch in diesen Tagen fühlt sich der Literaturwissenschaftler eher wie Goethes Zauberlehrling. Die Geister, die der 85-Jährige einst rief, sind nicht mehr in den Zaum zu bekommen.

Wer in den 1980er oder 1990er Jahren Literaturwissenschaft studierte, kam kaum darum herum, Brooks’ Polemik „Reading for the Plot“ zu lesen. Der Essay war nicht zuletzt ein Aufbegehren gegen den Strukturalismus, Brooks plädierte dafür, Geschichten nicht bloß semiotisch zu zerpflücken.

Ihn interessierte vielmehr, wie Texte Erkenntnis und Erfahrung strukturieren und was sie darüber lehren, wie wir uns mit der Welt ins Benehmen setzen. „Wir leben unser Leben in Geschichten, wir erzählen sie nach, wir bewerten die Bedeutung unserer vergangenen Handlungen immer wieder neu, wir antizipieren die Ergebnisse zukünftiger Projekte und positionieren uns am Knotenpunkt verschiedener unvollendeter Erzählungen“, schrieb er damals.

Kurz, das Erzählen ist laut Brooks nicht nur eine zutiefst menschliche Tätigkeit. Es ist vom Leben nicht zu trennen. Narro ergo sum.

 

Paradigma der Kommunikation

Knapp 40 Jahre später scheint es, als hätte die Welt Brooks erhört. „Storytelling“ ist zum Paradigma jeder Form der Kommunikation geworden. Es wird ebenso an Journalistenschulen unterrichtet wie in Werbe- und Branding-Seminaren. Wer auf die Website von Unternehmen der unterschiedlichsten Branchen geht, wird zuerst auf die „Story“ des Betriebs geleitet. Was dieser Betrieb eigentlich macht, erfährt man erst später oder gar nicht.

Der „narrative turn“ in der Wissenschaft ist längst auf einst solide Naturwissenschaften wie die Medizin übergesprungen. „Narrative Medizin“ wird auch an den renommiertesten medizinischen Fakultäten unterrichtet. Die Psychologie und die Philosophie sind schon längst affiziert, und auch die Ökonomie hält dem Ansturm des Narrativen nicht mehr stand.

Vielleicht am nachhaltigsten hat das Primat des Narrativen jedoch die Politik infiziert. Brooks stieß das zuerst auf, als George W. Bush im Jahr 2000 sein Kabinett vorstellte und beinahe jedes Mitglied mit den Worten anpries, er oder sie hätte „eine wunderbare Geschichte“. Von den Qualifikationen der Kabinettsmitglieder war derweil nicht die Rede.

Knapp 20 Jahre später sagte ein resignierter Barack Obama einem Journalisten, dass er glaube, er habe dem US-amerikanischen Volk „eine ziemlich gute Geschichte zu erzählen gehabt.“ Allerdings, räumte er ein, erzähle Trump auch keine schlechte Geschichte.

 

Ein Horrorszenario

Für Denker wie Brooks, die man gern auch als „postmodern“ bezeichnet, ist dieser Stand der Dinge ein Horrorszenario. Die Aufwertung des Narrativen und des Rhetorischen, die er selbst in den 1970er und 80er Jahren vorangetrieben hat, scheint gründlich missverstanden worden zu sein. Die Kultur hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wie er in seinem neuen Buch „Seduced by Story. The Use and Abuse of Narrative“ analysiert.

Eine Kultur, in der es nur noch darum geht, wer die bessere Geschichte erzählt, ist auch für Brooks zutiefst verstörend. Wenn Trumps Geschichte von der Wiederherstellung einer vermeintlich verlorenen Größe Amerikas Obamas Geschichte vom unvollendeten Projekt der Emanzipation einfach verdrängen kann, ist etwas faul im Staate.

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„Nichts auf der Welt kann eine gute Geschichte stoppen“, zitiert Brooks Tyrion aus dem TV-Drama „Game of Thrones“. „Das ist wahr“, fügt Brooks an. „Aber Rechtsstaaten zerfallen im Angesicht einer all zu guten Geschichte. Und Bevölkerungen unterwerfen sich.“

Die gut erzählte Geschichte, die den Rezipienten fesselt und Endorphinausschüttung auslöst, ist ohne Korrektiv reine Ideologie. Die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts waren verführerische, gut erzählte Geschichten. Doch sie haben auch unendlich viel Leid angerichtet.

 

Der Manipulation ausgeliefert

Was Brooks dann bemängelt, ist, dass wir dabei sind, uns der Fähigkeit zur Ideologiekritik zu berauben. In einem zunehmend vernunft- und wissenschaftsfeindlichen Umfeld, das zugleich die Macht der Erzählung vergöttert, sind wir der Verführung und Manipulation schutzlos ausgeliefert.

Brooks sieht in diesem bedenklichen Zustand eine Rückkehr in das 18. Jahrhundert, der Zeit einer ihrer selbst noch ungewissen Aufklärung. Er verweist auf den unsicheren Status der Erzähler bei Denis Diderot, Daniel Defoe oder Laurence Stern, die sich abmühten zu erklären, woher sie ihr Wissen beziehen.

Im 19. Jahrhundert hingegen saß die allwissende ErzählerIn fest im Sattel und erzählte unbeschwert vor sich hin. Die Freiheit dazu bezog sie aus dem gesicherten Status der Literatur als Literatur. Henry James konnte bereits luzide Erzählperspektive und narratives Bewusstsein analysieren. Die Literaturwissenschaft war geboren.

In der Demontage der Geisteswissenschaften sieht Brooks dann auch eine der großen Gefahren für unsere Zeit. Allein in der Fähigkeit, Geschichten zu verstehen und zu analysieren, sieht er ein Bollwerk gegen Ideologie und falsch verstandene Mythologie. „Das Gewicht der unanalysierten Geschichten, jene, die als wahre und notwendige Mythen akzeptiert werden, wird uns noch umbringen.“

Dinge, die wir nicht verstehen

Die Abschaffung der Narrative und die reine Herrschaft der analytischen Vernunft ist für den Narratologen freilich kein Ausweg. Der Mensch kommt für Brooks nicht ohne den narrativen Weltzugang aus. „Wir werden nicht als kleine Wissenschaftler geboren.“ Stattdessen erfinden wir von Beginn an Geschichten über jene Dinge, die wir nicht verstehen.

 

Was jedoch bei dem heutigen Boom des Narrativs verloren geht, ist das Bewusstsein dafür, dass Geschichten eben nicht die Wirklichkeit sind. Geisteswissenschaftler wie Brooks müssen uns daran erinnern, was Romanciers und etwa auch Psychoanalytiker seit dem 19. Jahrhundert wissen.

Das Erzählen und rastlose Revidieren von Geschichten ist ein Labor, ein Spiel des „Als-ob“. Man kann den Umgang mit der Wirklichkeit ohne Konsequenzen durchexerzieren. Bei der Anwendung auf die Welt ist jedoch äußerste Vorsicht ge­boten.

Als Paradebeispiel für die Dringlichkeit literaturwissenschaftlicher Kompetenz nennt Brooks das Recht, insbesondere in der Form, wie es in den USA ausgeübt wird. Obwohl das Rechtswesen fundamental narrativ verfasst ist, herrsche dort eine frappierende Blindheit gegenüber der Tatsache, dass es in der Rechtsprechung praktisch ausschließlich um das Erzählen von Geschichten geht.

 

Der „Originalismus“

So arbeitet sich Brooks besonders leidenschaftlich an der US-amerikanischen Rechtsdoktrin des „Originalismus“ ab, jener Behauptung, die Verfassung müsse im Sinn ihrer Autoren ausgelegt werden. Dem poststrukturalistischen Literaturwissenschaftler stellen sich dabei die Haare zu Berge. Die Idee, man könne die Inten­tio­nen der VerfasserInnen von 250 Jahre alten Texten re­kons­truie­ren, ist für ihn ein Relikt aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Der Schaden, der mit dem Originalismus angerichtet wird, ist in den USA derweil überaus greifbar. Er wird von konservativen Richtern als Rechtfertigung für alles Mögliche benutzt – vom Recht auf Waffenbesitz und -gebrauch bis hin zur Abschaffung des Rechts auf Abtreibung.

Brooks’ Gegenvorschlag? Brooks sieht den Text der Verfassung selbst als Narrativ, als Geschichte, die Amerika sich über sich selbst erzählt. Und als solche muss sie bei jeder Lesung neu ausgelegt werden. Freiheit und Selbstbestimmung bedeuten heute etwas anderes als vor 250 Jahren, wer Zugang zu vollen Bürgerrechten hat ebenso.

Und wenn das System der Wahlmänner das ländliche Amerika disproportional privilegiert, muss man fragen dürfen, ob es der Sache der repräsentativen Demokratie noch dient. Von der Notwendigkeit bewaffneter Bürgermilizen zum Schutz gegen Tyrannei ganz zu schweigen.

Was bleibt

Dass in Zukunft die amerikanischen Verfassungsrichter die literaturwissenschaftlichen Fakultäten konsultieren oder an juristischen Fakultäten mehr Seminare in Textkritik angeboten werden, bleibt freilich ein frommer Wunsch.

 

Und ganz sicher werden Politiker und Werbetreibende im harten Wettbewerb um Stimmen und Kunden kaum die Autorität ihrer eigenen Erzählungen hinterfragen. Und so bleibt dem einstigen Propheten der Macht der Erzählung nur ein melancholischer Blick auf die Welt.