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900 Seiten über den letzten Juden: Joshua Cohens Roman "Witz" erscheint nun auf Deutsch. Ein Gespräch über Hybris und die Frage, wie Gott wohl über die Welt spräche.

Die Zeit, 30. Januar 2022

 

Joshua Cohen gilt als eine der aufregendsten Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Der 1980 in Atlantic City geborene Schriftsteller machte international erstmals mit dem 2015 erschienen „Buch der Zahlen“ auf sich aufmerksam, das als Schlüsselroman für die Internetgeneration gefeiert wurde. Es folgte „Auftrag für die Moving Kings“, die Geschichte eines jüdischen Umzugsunternehmens in New York, eine Allegorie sowohl auf die Gentrifizierung von New York, als auch auf die israelische Siedlungspolitik. Nun hat der Schöffling Verlag es auf sich genommen sein Frühwerk „Witz“ auf Deutsch zu veröffentlichen. „Witz“ erschien in den USA im Jahr 2010 und erzählt in bösartig satirischer Form die Geschichte des letzten Juden der Welt. Es ist auf 900 Seiten ein Werk von monumentaler Ambition, das nicht weniger beansprucht, als ein Ausrufezeichen hinter 2000 Jahre jüdischer Literaturgeschichte darzustellen. Sein neuestes, ebenfalls satirisches Werk, „Die Netanyahus“, erscheint 2023 auf Deutsch.

Joshua Cohen, Ihr Magnum Opus „Witz“ erscheint jetzt auf Deutsch. Es ist vor mehr als zehn Jahren in den USA erschienen, es ist 20 Jahre her, dass Sie angefangen haben, daran zu arbeiten. Können Sie sich daran überhaupt noch erinnern? 

Ich habe ziemlich viel gesoffen seit damals, also geben meine Antworten vielleicht nicht sehr akkurat die Zeit von damals wieder. Ich habe, glaube ich, damals erst einmal unheimlich viel gelesen. Es wurde mir nach einem allerersten Entwurf klar, dass dieses Buch in einer ganz bestimmten Tradition steht und ich musste mich erst einmal tiefer in diese Tradition einlesen.

Welche Tradition meinen Sie?

Es gibt ein Buch in Yiddisch von Moishe Nadir, ich weiß nicht, was der deutsche oder der englische Titel wäre, ich denke vielleicht einfach nur „Der Messias“. Die deutsche Entsprechung des Buches ist vielleicht Hugo Bettauers „Die Stadt ohne Juden“. Beides sind apokalyptische Fantasien über falschen Messianismus auf der einen Seite und Vorahnungen des Holocaust auf der anderen Seite. Bettauer fragt sich, was passieren würde, wenn Wien alle Juden heraus schmeißt und Nadirs Buch handelt von einem Schausteller in Coney Island, der sich einen Einwanderer von der Straße sucht, ihn zum Messias ernennt und ihn in einer Schaubude vorzeigt. Durch diese beiden Bücher habe ich entdeckt, dass es eine Jahrhunderte alte Literaturgattung über den letzten Juden gibt. Ich musste aber feststellen, dass es keine formalen Studien dazu gibt, also habe ich mir erst einmal selbst auferlegt, diese Literatur zu ergründen, angefangen von den Reisen des Benjamin von Tudela bis hin zu Yoram Kaniuks „Der letzte Jude“, einem israelischen Roman.

Was hat Sie an dieser Tradition genau fasziniert?

Ich wollte heraus bekommen, welche Rolle die Figur des letzten Juden in der jüdischen Imagination spielt. Natürlich ist die Figur vor dem Hintergrund jahrhundertelanger Judenverfolgung logisch aber ich wollte verstehen, welches Verhältnis sie zum Messias hat.  Mich hat die Frage interessiert, ob die Figur aus dem Bedürfnis entstanden ist, sich den Messias in menschlicher Gestalt vorzustellen. Mich hat aber auch interessiert, wie man diese Figur, die aus einer langen poetischen Tradition entstanden ist, in eine Romanform bringen kann.  

Sie waren damals 20 Jahre alt und haben als Korrespondent des Daily Jewish Forward in Berlin gelebt.

Ja, ich war erst 20, ich hatte aber eine sehr gründliche Ausbildung in Torah- und Talmudstudien, man hat mir das in der Schule ja zum Überdruss in den Rachen gestopft. Gleichzeitig habe ich im College eine solide Ausbildung in amerikanischer und europäischer Literatur bekommen. Aber echte jüdische Literatur wird kaum unterrichtet und es wird auch kaum darüber gesprochen. Man muss sich das selbst erarbeiten. Wenn Sie in die Yeshiva gehen, kennt niemand einen einzigen yiddischen Schriftsteller. Man studiert die Torah, man studiert den Talmud, man studiert Gomorrah, Midrash, man lernt hebräisch und aramäisch aber das befähigt einen nicht dazu irgendwas zu lesen, was neuer ist, als das achte Jahrhundert. Ich kannte Raschi, ich kannte Rambam, ich kannte Nachmanidis aber ich kannte nicht Chaim Grade, ich kannte nicht Moische Nadir.

Es gibt keine Universitäten in den USA, die das unterrichten?

Doch, ich hätte sicher in yiddischer Literatur promovieren können, aber ich habe mich ja nicht nur für yiddische Literatur interessiert. Außerdem gibt es keinen nennenswerten Yiddischisten, der jünger ist als 80 und die forschen über Dinge wie „Die Funktion der Tuberkulose in der jüdischen Literatur im 19. Jahrhundert“. Das ist nicht unbedingt mein Interesse. Die Literatur, die mich interessiert, war populäre yiddische Literatur.  

Also Sie haben es sich im Alter von 20 zur Aufgabe gemacht, die jüdisch-amerikanische Literatur auf eine neue Grundlage zu stellen.

Ja, aber das erschien mir überhaupt nicht übermäßig ambitioniert. Sehen Sie, man kann alle großen Werke der jüdisch-amerikanischen Literatur in einem Monat durchlesen. Das geht mit deutscher oder französischer Literatur nicht. Mich hat vielmehr die nicht-amerikanische jüdische Literatur eingeschüchtert, die viele Jahrhunderte zurück geht und die mir völlig unbekannt war.

Das Ergebnis ist ein monumentales Werk von beinahe 1000 Seiten. Hatten Sie von Anfang an die Ambition, ein so monumentales Werk zu schreiben?

Ich wusste nur, dass ich etwas Längeres schreiben wollte. Ich wollte etwas schaffen, was eine serielle Qualität hat, eine Pikareske. Die haben mir immer Spaß gemacht, Augie March von Saul Bellow etwa aber auch britische Romane aus dem 18. Jahrhundert, Sterne, Smollett.

Witz liest sich aber nicht nur wie eine Pikareske sondern wie der definitive jüdische Roman. Es ist ein wilder Ritt durch die Geschichte des Judentums und stellt die Frage nach seiner Identität und seiner Zukunft.

Es gibt einen Essay von Itzik Manger, den ich gelesen habe, als ich ein Kind war. Der hat mich damals sehr deprimiert. Manger sagt darin, dass echte Nationen Romane haben. Wenn man Tolstoi liest, liest man Russland. Die Seele der Nation wohnt in dem Buch.  Er fragt in dem Essay, warum es keinen großen jüdischen Roman gibt und die Antwort ist, dass es keine jüdische Nation gibt, nur einen Haufen Leute, die eine Sprache sprechen, die sich aber nicht territorial als Nation definieren können. Darüber hinaus entspricht die historische Bestimmung des jüdischen Volkes keinem romanhaften Begriff der Bestimmung. Im Roman entspricht das Schicksal des Individuums immer dem Schicksal des Volkes, das wiederrum den Helden zum Wandel bewegt. Bei uns hingegen gibt es keinen Wandel und keinen freien Willen, es gibt nur den Willen Gottes. Deshalb ist die jüdische Literatur eine Literatur der Anekdoten. Sie kommt aus der Volkserzählung, der Fabel oder sogar aus dem Witz.  Also ich erinnere mich daran, diesen Essay gelesen zu haben und meine Reaktion darauf war Rebellion, weil ich 20 war und ein Idiot. Ich habe gedacht, nein, das ist Quatsch, ich kann einen jüdischen Roman schreiben, in dem Wandel statt findet.

Und ist Ihnen das gelungen?

Je mehr ich an dem Buch gearbeitet habe, desto mehr wurde mir klar, dass Manger das gar nicht negativ gemeint hat. Ich habe mich immer mehr gefragt, ob ich überhaupt Romane mag, also Romane im romantischen Sinn des 19. Jahrhunderts. Juckt  mich das überhaupt? Interessiert es mich ob das, was ich schreibe, Amerika reflektiert oder das Judentum? Ich habe also gemerkt, dass meine Sensibilitäten dem, was er beschrieben hat, wesentlich näher waren, dass mich die Anekdote und der Witz viel mehr interessieren als die große Erzählung. Als ich dann die Verbindung zwischen dem und dem englischen Roman des 18. Jahrhunderts gefunden hatte, wurde mir darüber hinaus klar, dass auch die nur Anekdoten erzählt haben. Der Roman war eine Wahnvorstellung, die nur 100 Jahre lang in einer Hand von Ländern angehalten hat und die Hälfte davon sind langweilig. Diese Erkenntnis war für mich sehr befreiend.  

Witz war also ein paradoxes Projekt. Ein riesiger Roman, der kein Roman sein möchte.

Ja total. Wenn ich an die Zeit, in der ich Witz geschrieben habe, zurück denke, denke ich an ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr gehabt habe, nämlich, dass ich beim Schreiben Scham verspürte. Ich habe versucht einen Roman zu schreiben und dabei gemerkt, dass eines von drei Dingen wahr sein muss. Nummer Eins: Ich kann keinen Roman schreiben. Nummer Zwei: Juden können keine Romane schreiben. Nummer Drei: Romane können im dritten Jahrtausend nach Christus nicht mehr geschrieben werden. Ich habe mich dann letztlich für Nummer Vier entschieden: Ich möchte überhaupt keinen Roman schreiben. Das hat bei mir aber damals eine enorme Krise ausgelöst.

Sie werden aber trotzdem bis heute gemeinhin als Romanschriftsteller bezeichnet.

Ja, kann sein. Als Jude lernt man früh, dass man das ist, was sie Dich nennen. Was ich über Witz sagen kann, ist, dass es eines von zwei Büchern ist, das ich geschrieben habe, das in der dritten Person erzählt wird. Wenn ich mich heute umschaue, muss ich fest stellen, dass kaum mehr Bücher in der dritten Person geschrieben werden. Dabei denke ich, dass der allwissende Erzähler, der in jede Figur schlüpfen kann und wenn es ein Laternenpfahl ist, das Ideal des Romans ist. Das ist Tolstoi, das ist Hugo, das ist Dickens. Wenn ich an einen Roman denke, denke ich an die Hybris, zu glauben, dass man das kann. Man sagt ja, das Schwierigste daran sei, Figuren zu bewohnen, die anders sind, als man selbst. Für mich ist jedoch die Frage noch viel schwieriger, woher die Sprache kommt. Wenn niemand spricht oder wenn Gott spricht, wie spricht er dann? Ich denke Witz war mein Versuch, heraus zu bekommen, wie ein allwissender Erzähler spricht.

Das Ergebnis ist das, was man gemeinhin einen postmodernen Roman nennt. War die amerikanische Postmoderne in irgendeiner Form ein Orientierungspunkt für Sie?

Natürlich kenne ich Pynchon und Coover und Barth aber sehen Sie, ich brauche keine postmoderne Literatur als Inspiration. Ich habe als Teenager Pynchon gelesen, aber zu dem Zeitpunkt hatte ich mich schon zehn Jahre lange in einer Disziplin bewegt, in der man einen Text bekam und dazu einen Text in einer anderen Schrift und vielleicht einer anderen Sprache, der ein Kommentar zum ersten Text ist, aber dennoch keine direkte Korrelation zu dem ersten Text hat, weil es ein allegorischer Kommentar ist. Ich hatte also diese Idee schon zutiefst in mich aufgesogen. Coover oder Pynchon haben mir nur gezeigt, dass ich mich dieses Erbes nicht schämen muss.

Die jüdische Schriftkultur war also Ihrer Meinung nach immer schon Postmodern?

Nun Postmoderne ist ein komplizierter Begriff. Pynchon, Barth und Coover etwa werden oft in einen Topf geworfen, obwohl sie sehr unterschiedlich sind. Ich glaube, was sich für mich sehr natürlich angefühlt hat, war das Konzept der Metafiktion.  Wenn man als Kind die Torah liest dann denkt man, Moment mal, es gibt in diesem Buch eine Szene, in der das Buch empfangen wird und die Szene ist in der Mitte des Buches. Du sagst mir also, dass mitten im Buch ein Typ den Berg rauf läuft und dort das Buch empfängt, dass ich gerade lese, das dann aber gleichzeitig in die Zukunft weiter geht?

Wie gut lesen Sie Deutsch?

Das Deutsch von Witz? Sehr sehr langsam und nur mit der Hilfe des Übersetzers Ulrich Blumenbach. Ich denke seine Übersetzung hat das Buch seiner Quelle näher gebracht. Yiddisch ist viel näher am Deutschen als am Amerikanischen. Wenn man ein Buch nimmt, dass in der Sprachfärbung und in der Syntax ohnehin schon sehr nahe am Yiddischen ist, und es ins Deutsche überträgt, hat man plötzlich viel mehr Optionen. Ich habe selbst einmal ein wenig übersetzt, ins Hebräische und ich musste damit aufhören, weil man auf einmal alle diese Möglichkeiten sieht, die sich auftun und es sehr schwierig wird, all diesen sprachlichen Pfaden zu folgen. Ich denke die Freude beim Übersetzen liegt darin, diese Verbindungen zu entdecken. Das kann allerdings deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen, als es dauert, den Text zu verfassen und ich bin Ulrich Blumenbach unendlich dankbar.

Wie war es für Sie, bei der Zusammenarbeit mit Ulrich Blumenbach, geistig in die Zeit zurück zu kehren, in der Sie das Buch geschrieben haben?

Nun ich musste natürlich daran denken, wie viel passiert ist seit 2010. Ich habe viel von dem Buch in Berlin, in Polen und in Litauen geschrieben, manches in der Ukraine , manches in Russland. Ich hatte oft kein Internet, kein Telefon. Es war noch nicht die harte Putin Ära, es gab eher noch immer ein Kater aus der wirren Jeltzin Ära. Es gab die ersten Vorboten der EU in Tschechien, Polen und Ungarn, aber die ganze kommunistische Infrastruktur war noch immer sehr präsent. Und es gab diesen Generationenkonflikt der jungen Leute mit den „Kommunisten“, mit denen sie eigentlich ihre Eltern meinten.  

Was hat Sie damals nach Europa gebracht?

Zu der Zeit war der Journalismus zum ersten Mal vom Aussterben bedroht. Viele meiner Kommilitonen haben sich Jobs bei den ersten Online Publikationen genommen oder haben Blogs geschrieben. Ich habe die bewusste Entscheidung getroffen in Deutschland, Polen, Litauen und der Slowakei für eine jüdische Zeitung zu arbeiten. Es war in gewissem Sinn eine asoziale Entscheidung aber es fühlte sich an, als ob es eine Prüfung war, der ich mich unterziehen musste, um bestimmte Dinge über meine Eltern und Großeltern zu begreifen und über mich als Schriftsteller. Es kam mir ehrlicher vor, als in New York zu bleiben und für ein verdammtes Online Magazin zu arbeiten.

Die Reaktion auf Witz in den USA war eher zurückhaltend.

Ich fand sie gar nicht so schlecht für ein 900 Seiten langes Buch aus einem Kleinverlag. Es gab eine sehr nette Rezension in der Times aber es stand halt kein großer Verlag dahinter. Das Buch kam und ging.

Hatte es auch damit zu tun, dass Sie damals in den USA unbekannt waren und man sie nicht richtig ernst genommen hat?

Ja absolut. Die Leute haben gedacht, was macht dieses ungezogene Kind da, das uns 900 Seiten an den Kopf schmeißt.

Wie sind Sie damals damit umgegangen?

Es war mir eigentlich egal. Ich habe nie geglaubt, dass ich irgendetwas veröffentliche und die ganze Welt mir den Teppich zum Thron ausrollt. Ich hatte nie die Erwartung, dass ein Buch mein Leben ändert.  Aber ich war unverschämt genug, dass ich ein Zeugnis davon haben wollte, dass ich dort war, wo ich war und getan habe, was ich getan habe, nämlich die letzten Holocaust Überlebenden in Osteuropa als letzter Korrespondent für die letzte jüdische Zeitung in New York zu interviewen.  Also was vielleicht aussah wie ein hybristischer Stunt, nämlich den Leuten die 900 Seiten vor den Kopf zu knallen, war für mich das einzig ehrliche, was ich tun konnte.

Viele Ihrer Interviews mit den letzten Holocaust Überlebenden sind in das Buch eingeflossen.

Der letzte Monolog in dem Buch ist der Monolog des letzten Holocaust-Überlebenden. In dieser Passage sind unheimlich viele Details aus diesen Interviews. Ich bin all diesen Menschen, die jetzt alle tot sind, zu tiefem Dank verpflichtet.

In gewissem Sinn waren Sie also während Ihrer Zeit in Europa Benjamin Israelien, der letzte Jude aus „Witz“.

Ja, aber das war ich in New York auch schon. Ich meine, ich habe für den Daily Jewish Daily Forward gearbeitet, der auf Russisch, Yiddisch und Englisch erscheint. Ich bin mit komplizierten Überweisungen bezahlt worden die ewig gebraucht haben und hatte kein Telefon auf dem ich erreichbar war. Es war eine eigenartige Zeit.

Sie sprechen von dem Topos des letzten Juden, der sie fasziniert aber auch von seiner Ausstellung als Kuriosität in Coney Island. In gewissem Sinn ist das das Schicksal von Benjamin Israelien. Glauben Sie an den Tod der jüdischen Identität und ihre Wiedergeburt als Kuriosität, als Fetisch?

Ja, natürlich. Die Verkitschung von Trauma, die in Darstellungen des Holocaust ihren Gipfel gefunden haben, ist aber ja nicht auf den Holocaust beschränkt. Wir sind überall davon umgeben. So viel der heutigen Kunst ist eine Performance von Trauma. In gewissem Sinn ist Trauma heute der legitimierende Stempel für die Kunst. Ich kann nur Kunst machen, weil ich traumatisiert bin.  

Sie halten die heutige amerikanische Literatur in erster Linie für Opfer-Literatur?

Es gibt zwei große Narrative in der amerikanischen Literatur: Das Einwanderungsnarrativ - meine Familie ist her gekommen um ein besseres Leben zu finden- und das konkurrierende Sklavennarrativ – wir sind hierher verschleppt worden. Das sind konkurrierende Narrative und aus dem Versagen dieser Narrative, aus dem Scheitern dieser Gruppen am amerikanischen Traum, erwächst eine Trauma-Literatur, die dann entsprechend verpackt und vermarktet wird.

Und Sie versuchen, aus dieser amerikanischen Trauma Literatur auszubrechen?

Natürlich habe ich das im Sinn. In meinem Buch „Solo für Schneidermann“ gibt es eine Szene, in welcher die Hauptfigur ins Kino geht und Schindler’s List sieht und sagt, „ich war da, so war das nicht“. Eines der Dinge, über die ich nachgedacht habe, während ich Witz geschrieben habe, war, warum die deutsche Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg diese Trümmer Literatur war. Es gab dieses minimalistische, karge Schreiben in Deutschland. Man musste jedes Wort in Frage stellen, weil jedes Wort vergiftet war. Das kam mir nicht wie eine Trauma-Literatur vor, sondern wie eine traumatisierte Literatur.  Die amerikanische Antwort auf das Einwanderungstrauma hingegen ging in die entgegengesetzte Richtung. Wir neigen zum Exzess und zum Pathos. Also gab es in Deutschland, ja eigentlich in ganz Europa, eine verdörrte Literatur, die Romane wurden kürzer und knapper, in Amerika wurden sie fetter und verschwitzter, so wie die Leute.

Sie finden diese Instrumentalisierung von Trauma geschmacklos.

Ja. Aber ich glaube, dass jeder das geschmacklos findet. Ich glaube, die Leute, die das produzieren und verkaufen, finden das selbst geschmacklos. Ich glaube die hassen sich selbst. Aber was mich interessiert, ist die Frage woher diese amerikanische Reaktion kommt.

Und haben Sie darauf eine Antwort?

Ich glaube, dass man versucht, im Roman jenen Überfluss zu finden, den man im Land versprochen bekam. Es wurde einem ein Land versprochen, in dem alles möglich ist, wo einem alles gehört, wo man tun kann, was man will, sein kann, wer man will. Wenn das in der Realität unmöglich wird, dann kompensiert man das mit seiner Vorstellungskraft.   

Es gibt eine Passage in Ihrem neuesten Roman, den „Netayahus“, in der Sie schreiben, dass in Amerika die Vergangenheit immer nur die Vorstufe zur Gegenwart ist und die Gegenwart jeweils die neueste Version des amerikanischen Superlativs, während es in der hebräischen Schule keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft gibt. Wie versöhnen Sie als jüdisch-amerikanischer Schriftsteller diesen Wiederspruch?

Ich glaube, dass das Einwanderer-Narrativ und das Sklaven-Narrativ in der amerikanischen Literaturgeschichte historisch nur einen sehr kleinen Raum einnehmen. Die Einwanderer-Literatur begann frühestens am Ende des 19. Jahrhunderts, Sklaven-Erzählungen existierten lange Zeit überhaupt nur als Oral History. Die ersten jüdischen Einwanderergeschichten wie Abraham Cahan und der erste wirklich große Einwandererroman „Call it Sleep“ von Henry Roth sind sehr sehr neu. Also es gibt in Amerika noch nicht lange eine Literatur, die nicht von der wohlhabenden, herrschenden Schicht geschrieben wurde, sondern von unten kommt.  Wir würden auf der Straße heute jederzeit einen jungen Menschen finden, der Philip Roth als Sexisten verteufelt. Aber die Wahrheit ist doch, dass Roth der Großvater der jungen schwarzen Schriftstellerin von heute ist. Dieses Kontinuum der Demokratisierung, der Begriff dessen, was wir für amerikanische Kultur halten, ist so neu, dass ich eigentlich kaum sagen kann, dass jüdische Kultur und amerikanische Kultur sich heute noch widersprechen. Die Leute schauen sich heute den Mob an, der das Kapitol gestürmt hat und sie schauen sich Donald Trump an. Aber auf der anderen Seite war die Demokratisierung unserer Kultur ungeheuer erfolgreich.

Sie sind also sehr optimistisch, was Amerika angeht.

Ich weiß nicht, ob die Kultur ein gutes Maß für die Gesundheit eines Landes ist. Es gab in Deutschland in den 20er und 30er Jahren auch einige hervorragende Schriftsteller.  Aber was amerikanische Kultur angeht – es war für Saul Bellow noch sehr schwer ernst genommen zu werden. Es war am Anfang schwer für Roth ernst genommen zu werden. Jetzt gibt es neue Einwanderungswelllen, die neue Literatur hervorbringen, aus Russland etwa, ich denke da an Gary Shtyngart oder an indisch-amerikanische Schriftsteller wie Karan Mahajan. Das ist die Fortsetzung eines Prozesses, der sich über viele Jahrzehnte erstreckt. Die amerikanische Kultur hat sich lange dagegen gestemmt, aber das Establishment gibt es heute nicht mehr. Ich glaube, viel von dem, was ich schreibe, hat auch mit der Frage zu tun, wie wir alle miteinander reden, wenn es keine Autorität mehr gibt, nicht einmal mehr eine imaginierte.

Hat es Sie je interessiert Literatur zu schreiben, die sich nicht mit der jüdisch-amerikanischen Thematik beschäftigt?

Ich hatte nie primär den Wunsch jüdisch-amerikanische Literatur zu schreiben. Ich habe versucht nicht-jüdische Figuren zu entwerfen, die nicht-jüdische Dinge tun. Also erfinde ich einen Mann, ich schicke ihn in den Tag und nach 20 oder 30 Seiten tut er eben etwas jüdisches, aber das passiert mir eben so. Es gab Zeiten, in denen ich versucht habe, das zu vermeiden, aber dann war das sehr angestrengt. Das wird dann eine Karikatur eines Nicht-Juden.  

Es gibt afroamerikanische Schriftsteller, die sich darüber beklagen, dass sie nie aus der Ecke heraus kommen, afroamerikanische Schriftsteller zu sein und über afroamerikanische Dinge zu schreiben.

Ich traue niemandem, der sich darüber beklagt, dass er oder sie über etwas schreiben kann. Schreiben ist so unglaublich schwer. Wenn man eine Sache gut kann, sollte man darüber glücklich sein. Ich hatte einmal einen jungen schwarzen Schriftsteller, der mich um Rat gefragt hat, der hatte dasselbe Problem, er hat sich gefragt, ob er immer nur über schwarze Themen schreiben soll. Dann hat er seine Tasche geöffnet und hatte fünf Thomas Bernhard Romane drin. Da habe ich gesagt, siehst Du? Bernhard hat eine einzige Sache gemacht und er hat sie gut gemacht. Eine Sache. Das reicht doch.  Was wir an anderen Leuten lieben ist doch die Unausweichlichkeit, mit der sie sie selbst sind. An uns selbst hassen wir das natürlich, wir haben die Nase voll von uns.

Was bedeutet es für Sie, dass dieses Buch jetzt ins Deutsche übersetzt wird?

Das ist eine enorme Ehre. Dass Ulrich das auf sich genommen hat und so ernst genommen hat, dass Klaus Schöffling und meine Lektorin Sabine Baumann das auf sich genommen haben ist wunderbar. Ich habe gerade gegen die Verkitschung von Trauma gewettert und ich möchte mich nicht dessen schuldig machen. Aber es fühlt sich schon so an, als ob sich mit der Veröffentlichung von Witz auf Deutsch für mich ein Kreis schließt. Der letzte Teil des Buches ist letztlich eine geteilte Geschichte der Familie meiner Mutter und der Familie meines Vaters. Das Haus, das im letzten Teil beschrieben wird, ist ihr Haus in Köln, in der Scheidtweilerstrasse. Es wurde enteignet, war dann ein SS Hauptquartier und ist heute der Sitz der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates. Meine deutsche Großmutter hätte ganz bestimmt nie eines meiner Bücher gelesen, ich wäre ganz bestimmt nicht ihr Fall gewesen. Trotzdem wäre sie stolz darauf, dass es dieses Buch auf Deutsch gibt.

Wie war das Verhältnis Ihrer Eltern und Großeltern zu Deutschland?

Mein Vater war ungeheuer enttäuscht von Amerika. Er hat nach ungefähr zehn Minuten vergessen, dass dieses Land sein Leben gerettet hat, und sich über alles beschwert, wie krass alles im Fernsehen ist, wie unkultiviert die Menschen hier sind, und so weiter. Also ich weiß nicht, ob es mehr ein Tribut an meine Großeltern war, dass ich Romancier geworden bin oder eine Art Rache an meinem Vater. Ich habe ihm bewiesen, dass in diesem dummen Land doch alles möglich ist.  Aber es ist natürlich auch eine kleine Rache an Deutschland.