Erst kippte der Supreme Court das Abtreibungsrecht, ein Verbot der Homo-Ehe und von Verhütungsmitteln könnten folgen. Hinter dem reaktionären Ruck steht Richter Clarence Thomas

Focus, 8.7.2022

Der 4. Juli ist in den USA gewöhnlich Anlass für eine landesweite Demonstration von hemmungslosem amerikanischem Hurra-Patriotismus. Keine Kleinstadt und kein Dorf kommen ohne eine Parade und ein Feuerwerk zum Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung aus, kein Vorgarten und kein öffentliches Gebäude bleiben ohne Fahnenschmuck in Rot, Weiß und Blau.

Doch in diesem Jahr war die Stimmung deutlich gedämpfter als sonst. Die Liebe zum Vaterland und seinen Institutionen hat in den vergangenen Wochen bei vielen Bürgern einen Knick erhalten, spätestens seit das Oberste Bundesgericht, der Supreme Court, zuerst das Grundrecht auf Abtreibung abgeschafft und kurz darauf trotz wiederholter Massaker die Rechte der Bürger, offen Waffen zu tragen, ausgeweitet hat.

So nutzten viele AmerikanerInnen den Feiertag zu Demonstrationen, nicht zuletzt vor dem Gebäude des Obersten Gerichts in Washington DC. Das Gericht, eigentlich dazu ersonnen, die Grundrechte zu schützen, ist für viele Bürger zum Symbol staatlicher Repression und Übergriffigkeit geworden.

Grund für den Zorn auf den Supreme Court sind jedoch nicht alleine die Urteile der vergangenen Wochen. Grund ist vor allem die Furcht davor, was als Nächstes kommt. Die Angst geht um, dass das Urteil im Fall Dobbs vs. Jackson Women’s Health, das die Entscheidungsgewalt über das Recht auf Abtreibung an die Einzelstaaten delegiert, nur der Beginn einer langfristigen reaktionären Kampagne ist. Eine Angst, die durchaus begründet ist. Insbesondere das Gutachten eines der Obersten Richter zu dem Fall, gewährt einen tiefen Einblick in die Absichten des seit der Trump-Regierung mehrheitlich ultrakonservativen Gremiums.

So schrieb Clarence Thomas, seit 1991 im Amt und noch vom älteren George Bush an das Gericht berufen, dass „das Gericht sich sämtliche Präzedenzen, die mit dem Grundrecht auf ein ordentliches Verfahren argumentieren, neu betrachten muss.“ Der Satz klingt für Laien so, als würde er lediglich eine juristische Verfahrensfrage aufwerfen. Wer sich in der Geschichte des Gerichts und der amerikanischen Rechtsprechung auskennt, weiß jedoch, dass darin reichlich politischer Zündstoff liegt.

Das neue Urteil setzt die juristische Grundlage für das Urteil im Fall Roe vs. Wade aus dem Jahr 1973 außer Kraft, die sich auf den 14ten Verfassungszusatz, der Garantie eines ordentlichen Verfahrens, berief. Aufgrund der gleichen Argumentation entscheid das Gericht auch über die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und über das Recht auf Geburtenkontrolle.

Deshalb bezeichnete der Journalist Ed Kilgore im New York Magazine Thomas‘ Gutachten auch als nicht weniger, denn einen „Aufruf zur konservativen Konterrevolution.“ Während das ursprüngliche Gutachten des ebenfalls konservativen Bundesrichters Samuel Alito noch ausdrücklich zu Protokoll gab, dass sich die Argumentation im Fall Dobbs nicht auf andere Präzedenzen übertragen lasse, war Thomas‘ Schrift eine offene Kriegserklärung gegen sämtliche als progressiv empfundenen Präzendenzfälle der vergangenen 50 Jahre.

Die Absichstbekundung von Thomas macht Kilgore jedoch nicht alleine deshalb Sorgen, weil die juristischen Triumphe der Linken und mit ihnen die liberale Gesellschaftsordnung der USA auf dem Spiel stehen. Was Thomas im Schild führt, reicht noch deutlich weiter. Thomas möchte das Kräftegleichgewicht zwischen den drei Gewalten im US Staat deutlich zugunsten der Judikative verschieben. Kurz- er führt nicht weniger im Schild, als das Weiße Haus und den Kongress, die sich oft ohnehin in einem ewigen Grabenkrieg gegenseitig neutralisieren, zu entmachten und die Entscheidungsgewalt an sich zu reißen.

Die amerikanischen Gründerväter hatten einst das Oberste Bundesgericht als „Vermittler zwischen dem Volk und der Legislative“, konzipiert. Laut Alexander Hamilton, einem der wichtigsten Autoren der Verfassung, soll das Gericht darüber wachen, dass die Legislative sich ausschließlich im Rahmen ihrer Autorität bewegt. Dabei sollte das Gericht jedoch letztlich der zahnloseste Regierungszweig bleiben. „Die Exekutive hält das Schwert, die Legislative wacht über die Kasse. Die Judikative soll lediglich den anderen Zweigen auf die Nerven gehen.“

Grundlage für diese Philosophie ist die angelsächsische „Case Law“ oder das Rechtsprinzip des  „Stare Decisis“. Das Prinzip besagt, dass es die Aufgabe des Gerichts ist, bestehende Urteile als geltendes Recht zu ehren und zu verteidigen. Mit der neuen Entscheidung zur Abtreibung ist das Gremium jedoch eindeutig von diesem Grundsatz abgewichen. „Es gab für das Gericht keinen triftigen Grund, diesen Fall zu diesem Zeitpunkt aufzunehmen“, sagt Mary Ziegler, Jura Professorin in Harvard und Autorin eines Buches über den Kampf um das Recht auf Abtreibung. „Wenn das Gericht diesen Weg weiter geht, dann ist kein Recht mehr sicher.“

Die treibende Kraft hinter diesem Coup von Innen, das wird aus den Akten des jüngsten Urteils deutlich, ist eindeutig Clarence Thomas. Der afroamerikanische Richter aus Georgia artikuliert in seinen Gutachten bei weitem die radikalste Position der neun Richter, von denen seit der Präsidentschaft von Donald Trump sechs dem konservativen Lager zugerechnet werden.

Thomas, der viele Jahre still in einem mehrheitlich liberalen Gericht gedient hat, so scheint es heute, hat nur auf diesen Augenblick gewartet. Über viele Jahre galt Thomas als der große Schweiger unter den neun Richtern. Er stellte den Anwälten und Klägern keine Fragen, verfasste aber stets ausführliche Meinungen und Kommentare. Darunter waren „Dissens“- Kommentare zu Entscheidungen, die das Recht auf Abtreibung aufrechterhielten, das Recht auf Waffenbesitz einschränken sollten oder die Wahlkampffinanzierung regulieren.

Insgesamt 700 solcher „Dissens“ Kommentar hat Thomas in den 30 Jahren seiner Amtszeit verfasst. Seitdem Trump drei Richterstellen besetzen konnte sind diese Meinungen, seinerzeit Außenseitermeinungen, nun mehrheitsfähig. Es ist, als habe Thomas 30 Jahre damit zugebracht, den juristischen Grundstein für die konservative Kulturrevolution zu legen, die jetzt endlich gekommen ist.

Was Thomas, einen schwarzen Mann aus dem Süden, dabei antrieb, war für viele Amerikaner lange Zeit ein Rätsel. Bis der Politikwissenschaftler Corey Robin in seiner Clarence Thomas Biografie aus dem Jahr 2019 aufzeigte, dass „Thomas‘ Ansichten durchaus in einer speziellen schwarzen Denktradition“, stehen.

Als Thomas, in bitterer Armut im Süden aufgewachsen, in den 60er Jahren an einer Universität im Nordosten ankam, war die schwarze Bürgerrechtsbewegung in vollem Schwung. Thomas, der von sich sagt, er habe „Jura im Hauptfach und Protest im Nebenfach“ studiert, stürzte sich mitten hinein. Von der bitteren Erfahrung des brutalen Rassismus im Süden geprägt, waren ihm dabei jene Mitkämpfer, die sich für Integration einsetzten, zu zahm und naiv. „Ich war Revolutionär“, sagt Thomas in „Created Equal“ - einem Dokumentarfilm zu seinem Werdegang.

Die Sozialisierung im brutal rassistischen Süden der 50er Jahre, so Robin, hat Thomas zutiefst pessimistisch gemacht, was die Rassenbeziehungen in den USA angeht. So folgte Thomas auch nicht dem Pazifisten Martin Luther King sondern dem militanten Malcolm X, der einmal gesagt hat, offener, ehrlicher Rassismus sei ihm lieber, als Rassismus mit einem lächelnden Gesicht. Verlogene linksliberale Gutmenschen waren ihm mehr zuwider, als der Ku Klux Klan.

Thomas‘ Kehrtwende zum Ultrakonservativismus hat vor diesem Hintergrund eine gewisse Folgerichtigkeit. Thomas sah liberale Regierungsprogramme wie Quotenregelungen oder die Integration der Schulen als eine Verhöhnung und Gängelung der Afroamerikaner an. Die Einschränkung des Waffenbesitzes sieht er bis heute als Versuch, Schwarzen die Mittel dazu zu nehmen, sich gegen Rassismus zur Wehr zu setzen.

Als Reaktion auf die Verlogenheit der linken Gutmenschen schloss Thomas sich in den 80er Jahren der neoliberalen Ideologie von Ronald Reagan an, die an die Kraft des Individuums glaubte und die Rolle der Regierung einschränken wollte. Das entsprach Thomas’ eigener Lebenserfahrung sowie der Botschaft, die er von seinem strengen und zutiefst frommen Großvater mitbekommen hatte: Verlasse Dich nur auf Dich selbst und auf Gott.

Thomas größte öffentliche Konfrontation mit dem von ihm verhassten linksliberalen Amerika, kam während der Senatsanhörungen zu seinem Amtsantritt. Vorsitzende des Ausschusses, der die Anhörungen leitete, waren Joe Biden und Edward Kennedy, zwei Ikonen des liberalen Amerika. Die beiden, so behauptet Thomas in seiner Autobiografie, waren bereit, mit allen Mitteln seine Nominierung zu verhindern. Dazu waren sie sich auch nicht zu schade, einen der ersten großen Fälle von sexuellem Fehlverhalten am Arbeitsplatz zu inszenieren.

Die Aussagen der Jura-Professorin Anita Hill zu den Anzüglichkeiten ihres einstigen Chefs Clarence Thomas vor dem Senat sind für Linksliberale heute ein früher Vorläufer der #Metoo Bewegung. Für Clarence Thomas hingegen war es, wie er damals sagte: der Versuch eines modernen Lynchmords.  

Thomas hat das nicht vergessen und insbesondere Joe Biden ist ihm aus dieser Zeit als Hassfigur haften geblieben. Und so hat Thomas‘ jetziger Versuch, das Weiße Haus in die Schranken zu weisen, auch etwas von einer persönlichen Vendetta.

Nun blickt Amerika bange darauf, wie weit Thomas zusammen mit seinen reaktionären Richterkollegen zu gehen bereits ist, um Biden auszuschalten und ihre Vision eines konservativen Amerika durch zu setzen. Einen deutlichen Hinweis darauf gab es im Februar 2021, als das Oberste Gericht über eine Klage der Republikaner des Staates Pennsylvania zu befinden hatte, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl von 2020 anzufechten. Das Gericht beschloss mehrheitlich, den Fall nicht anzuhören, doch Thomas verfasste ein scharf abweichendes Gegen-Gutachten.

Daraufhin wurde wieder einmal die Rolle von Thomas’ Ehefrau Ginni thematisiert, einer ultrarechten Aktivistin, der ein direkter Draht zu Donald Trump nachgewiesen werden kann und die sich offen für die Anfechtung des Wahlergebnisses eingesetzt hatte. Clarence Thomas entgegnet auf solche Vorwürfe stets, dass die beruflichen Aktivitäten des Paares „unabhängig“ voneinander seien. Das allerdings passt nicht zu Thomas‘ Aussagen in der Dokumentation über sein Leben, dass er und Ginni „eine unzertrennliche Einheit“ bilden.

Kongressabgeordnete wie Alexandria Ocasio Cortez jedenfalls haben bereits eine Amtsenthebung von Thomas wegen der Aktivitäten seiner Frau gefordert. Die Zeit dafür drängt allerdings. Für ein solches Verfahren wäre eine Mehrheit im Repräsentantenhaus erforderlich und man erwartet, dass die Demokraten bei den Zwischenwahlen im Herbst die Mehrheit in dieser Kammer wieder verlieren.

Clarence Thomas hingegen hat Zeit. Der 74-Jährige ist auf Lebenszeit bestellt.