Pulitzer-Preisträger Evan Osnos berichtet für den New Yorker seit Jahren aus Washington und hat hautnahe den Aufstieg von Donald Trump begleitet. In seinem Buch „Mein wütendes Land“ versucht er die tiefen Ursachen für das Auseinanderdriften der USA anhand des Schicksals dreier Städte und ihrer Bewohner nach zu zeichnen.

 

Die Zeit 5.11.2022

Evan Osnos, Sie zitieren in Ihrem Buch William Seward, den Außenminister von Abraham Lincoln, der gesagt hat, es gebe gerade noch ausreichend Tugend in Amerika, um die Republik zu retten.  Gibt es in Amerika heute noch genügend Tugend?

 

In der amerikanischen Geschichte kommt immer wieder gewisse Zerbrechlichkeit des Gemeinwesens zum Vorschein. Churchill hat einmal gesagt, die Amerikaner kommen immer erst zum richtigen Ergebnis, nachdem sie alle falschen Antworten ausprobiert haben. Ich glaube darauf hat auch Seward angespielt. Das amerikanische politische Leben ist inhärent chaotisch. Ich will damit sagen, ich glaube daran glaube, dass wir noch immer einen Rest an Widerstandsfähigkeit in uns haben. Dabei ist Tugend jedoch nicht die relevante Zutat. Wir können uns ja heute nicht einmal darauf einigen, was Tugend eigentlich ist. Aber die amerikanische Formel beruht fundamental auf der Idee der Erneuerung. Und ich glaube, dass wir diese Fähigkeit noch besitzen.

 

Woraus schöpfen Sie diese Hoffnung?

 

Eines der Dinge, die mir diese Hoffnung geben, ist die Tatsache, dass wir diese Unterhaltung führen. Es gibt heute ein öffentliches Bewusstsein für die Krise der Demokratie. Als ich vor sieben Jahren mit diesem Buch begonnen habe, sah man die Frage, ob die Demokratie in Gefahr sei, als hysterisch an. Ich habe lange Zeit das ganze Ausmaß meiner Sorge um die Demokratie verborgen gehalten. Wenn ich damals durch meine Heimatstadt Greenwich gegangen bin, die wohlhabend und sicher ist und gefragt habe, ob die soziale Ungleichheit in Amerika katastrophale Ausmaße angenommen habe, habe ich Unverständnis geerntet. Heute kann man sogar in Greenwich eine ernste Unterhaltung über Einkommensungleichheit und die Gefahr, die diese für die Demokratie, darstellt, führen. Ich denke das ist ein erster Schritt dahin, tatsächlich etwas zu ändern. Es ist doch sehr bezeichnend, dass sich heute ein amerikanischer Präsident hinstellt und von einer Krise der Demokratie spricht. Normalerweise sprechen amerikanische Präsidenten die Sprache des Optimismus. Jeder Morgen ist ein sonniger, jedes Problem kann gelöst werden. Biden hingegen klingt bisweilen finster und ich halte das für eine sehr gesunde Entwicklung.

 

Biden hat von semifaschistischen Tendenzen gesprochen.

 

Ja und das hat ihm einiges an Schwierigkeiten eingetragen. Biden ist, wie wir wissen, ein sehr moderater Politiker. Er ist keiner, der große Risiken eingeht. Also ist die Tatsache, dass selbst er solche Worte in den Mund nimmt, ein Indikator dafür, wie sehr die politische Klasse in den USA sich über die Krise der Demokratie einig ist. Das war 2015 noch nicht der Fall und das hat sicherlich auch den Aufstieg von Trump ermöglicht. Man hat einfach das Ausmaß der Krise, die sich da entfaltet, nicht voll erkannt.

 

Wann haben Sie denn die Krise erkannt?

 

Ich hatte 2015 den Auftrag, über den Trump-Wahlkampf zu berichten. Es war das erste Stück, das der New Yorker über Trump gebracht hat. Mein Redakteur hat damals gesagt – Du musst das schnell machen, das Trump Phänomen hält nicht lange vor. Also bin ich zu meiner ersten Trump-Veranstaltung gegangen. Die meisten Medien behandelten Trump damals noch als Witz und ich kam mir vor wie das Stinktier bei einer Gartenparty. Ich konnte nichts Lustiges an der Veranstaltung entdecken, ich fand sie beängstigend. Ich arbeitete damals gleichzeitig an einer Geschichte über weißen Suprematismus in Amerika und ich ging zurück zu meinem Redakteur und sagte ihm  - das sind nicht zwei Geschichten, das ist eine einzige Geschichte. Man hat mich damals noch belächelt, aber ich war fest davon überzeugt, dass hier etwas Bedenkliches im Gang ist.

 

Haben Sie damals geglaubt, dass er die Wahl gewinnen kann?

 

Ich war mir nicht sicher, aber ich fand das Phänomen wichtig genug, um ein Buch darüber zu schreiben. Als Trump dann tatsächlich gewonnen hat, hat sich natürlich das Projekt verändert. Auf einmal habe ich nicht mehr über eine mögliche Katastrophe geschrieben, sondern über die Ursachen einer eingetretenen Katastrophe.

 

Warum glauben Sie, dass Sie gegenüber der Gefahr, die von Trump ausging, sensibler waren, als viele andere Leute?

 

Es waren zwei Dinge. Das eine war, dass ich 10 Jahre lang im Ausland gelebt hatte und nie als Korrespondent in Washington. Ich war also in gewissem Sinn unverdorben und hatte eine gesunde Außenperspektive. Ich bin jetzt seit acht Jahren in Washington und merke, wie sich immer mehr der Blick verengt, wenn man in dieser Mühle steckt. Und natürlich hat meine Familiengeschichte damit zu tun. Die Familie meines Vaters waren Juden aus Polen und die Erfahrung des Faschismus ist Teil unserer Familiengeschichte. Als Trump angefangen hat, die Töne des Faschismus und des Hasses anzuschlagen, habe ich diese Melodie erkannt.

 

Der Untertitel Ihres Buches lautet „Mein wütendes Land“. Woher kommt der Zorn, der den öffentlichen Diskurs in den USA bestimmt?

 

Wenn ich einzelne Elemente heraus greifen müsste, dann würde ich wohl mit einem Gefühl des Status-Verlustes für Männer, insbesondere weißer Männer aus der Arbeiterschicht, anfangen. Ihnen ist ein Gefühl des Stolzes und der Würde abhanden gekommen. Das Narrativ dieser Bevölkerungsgruppe im 20. Jahrhundert war es, einen Krieg gewonnen zu haben, dann hat man sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet, hat seinen Kindern eine gute Ausbildung verschafft und hat sich in Florida zur Ruhe gesetzt. Irgendwann sind jedoch diese Embleme des persönlichen Aufstiegs verschwunden. Das hatte damit zu tun, dass die arbeitende Klasse im Laufe der Zeit einen immer geringeren Anteil des allgemeinen Wohlstands abbekommen hat. Sie haben nach Gründen dafür gesucht und haben dabei einen Irrglauben entwickelt. Sie haben nicht gesagt, dass der Grund für den Abstieg von West Virginia ein Versagen des Finanzkapitalismus war. Sie haben gesagt, die Einwanderer und die Muslime und Hillary Clinton sind daran schuld.

 

Und der zweite Grund?

 

Der andere Grund ist der Verlust eines Gefühls der Dazugehörigkeit. Man hat dieses Gefühl einmal vom Arbeitsplatz bezogen oder vielleicht von der Gewerkschaft oder der Partei oder der Kirchengemeinde. Wie wir heute wissen, lösen sich alle diese Institutionen auf ihre je eigene Art auf. Das Gefühl der Dazugehörigkeit wurde durch eine falsche Dazugehörigkeit ersetzt, die vor allem in den Sozialen Medien stattgefunden hat. Aber die sozialen Medien sind natürlich eine Fantasie, sie bieten eine Art der Zugehörigkeit, die nicht wirklich tragfähig ist. Wenn man sich genau anschaut, wann und wie die Menschen zornig geworden sind, dann korreliert das ziemlich genau mit dem Aufstieg der sozialen Medien.

 

Sie schreiben von der Spannung zwischen dem Gemeinschaftsgedanken und dem Kult des Individuums, die sich durch die gesamte amerikanische Geschichte zieht. In den vergangenen 20 Jahren hat jedoch ganz eindeutig der Individualismus gesiegt. Wie hat das begonnen?

 

Ich denke, das hat schon viel früher angefangen, als in den vergangenen 20 Jahren. Es hat in den letzten 20 Jahren nur extreme Züge angenommen. Die Ursprünge dessen, wie Selbstbereicherung zum Dogma wurde, haben mit dem Schwanken zwischen der individualistischen Ethik und der kommunitaristischen Ethik in Amerika zu tun. Am Ende der 60er Jahre haben wir gedacht, wie befänden uns auf dem Gipfel des Kommunitarismus. Es war die Hippie Ära, man hatte sich von den 50er Jahren erholt. Aber es war auch der Beginn einer massiven Gegenbewegung, angefangen mit Barry Goldwater bis hin zum 6. Januar 2021. Es war eine Reaktion auf die Gegenkultur, es war aber auch eine Reaktion auf die Ideale einer multiethnischen Elite.  Da fing unserer Orgie der Selbstbereicherung an. Aber mir gibt dieses Bild des Pendels zwischen diesen Extremen auch Hoffnung. So lange wir zwischen diesen Idealen hin und her schwanken, sind wir noch zu retten.

 

Das geht auf den Gedanken der Erneuerung zurück, den Sie zu Beginn angesprochen haben. Warum ist die amerikanische Gesellschaft mehr als jede andere dazu in der Lage, sich immer wieder zu erneuern?

 

Ich denke das Selbstbild Amerikas beruht darauf, dass wir diese Fähigkeit haben. Amerika ist als Projekt der Selbst-Aktualisierung angelegt. Der ursprüngliche Gedanke Amerikas war die Ablehnung des Königs und die Ablehnung der erstickenden Aspekte der Kirche. Dahinter steckte der Glaube an das Individuum als Gegengewicht zur Monarchie. Dazu gehörte, dass wir immer wieder von vorne anfangen können, dass wir immer wieder den Kurs korrigieren können. Das hat sich strukturell darin manifestiert, dass wir alle zwei Jahre die Gelegenheit zum Neubeginn haben. Die Tatsache, dass wir den Kongress alle zwei Jahre neu wählen ist eine Spiegelung des geringen Vertrauens, das wir in unsere Entscheidungen setzen. Ein zentraler Grund dafür, dass wir heute in solche Schwierigkeiten geraten sind, ist, dass wir dieser ständigen Erneuerung so viele Hindernisse in den Weg gelegt haben. Als ich nach Washington gekommen bin, bestand der Kongress zu 82 Prozent aus Männern, zu 83 Prozent aus Weißen und zu 50 Prozent aus Millionären. Das war ein deutliches Zeichen dafür, das wir diese Fähigkeit zur Erneuerung verloren hatten. Es war in keiner Art und Weise eine Wiederspiegelung der Bevölkerung.

 

In zwei Wochen haben die USA nun wieder die Gelegenheit sich zu erneuern.

 

Ich gebe zu, dass ich nicht blind optimistisch sein kann. Die Demokraten werden leiden bei dieser Wahl, alles andere wäre ein Wunder. Andererseits sind die Wählerinnen einzigartig durch das Urteil des Obersten Gerichts zur Abtreibung mobilisiert und die Krise der Demokratie ist ein großes Thema. Wir sollten uns aber, glaube ich, am Besten in zwei Jahren wieder unterhalten. Ich glaube nicht, dass Donald Trump wählbarer geworden ist, als er das 2020 war. Ich glaube deshalb sollten wir uns weniger Sorgen darum machen, ob er wiedergewählt wird, als darum, dass jemand gewählt wird, der dieselben Spielzeuge benutzt wie er.

 

Sie sprechen in Ihrem Buch über den Verlust von Gemeinschaft in Amerika und schreiben speziell über zwei Städte, in denen Sie gelebt haben: Die Kleinstadt Clarksburg in West Virginia, wo sie als Lokalreporter gearbeitet haben und Ihr Heimatort Greenwich, eine der reichsten Gemeinden der USA. Wie ist in diesen beiden Gemeinden spürbar der Sinn von Gemeinschaft verloren gegangen?

 

Greenwich war schon immer sehr wohlhabend aber die Bedeutung von „wohlhabend“ hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verschoben. Vor nicht all zu langer Zeit haben die Leute zwar in schönen Häusern gewohnt, aber es gab noch einen Kontakt zu den Nachbarn. Es gab alte, niedrige Grundstücksmauern aus Stein, über die hinweg man sich unterhalten hat, man hat sich beim Einkaufen getroffen, es gab eine geteilte Erfahrung. Dann ist mit der Finanzialisierung der Wirtschaft und dem Aufkommen der Hedge Funds die Wohlstandskurve in Greenwich steil nach oben gegangen. Die Leute haben angefangen, sich Festungen zu bauen und voneinander abzuschotten. Aus den kleinen Steinmauern sind drei Meter hohe Betonwände mit Überwachungskameras geworden. Am anderen Ende des Spektrums, in Clarksburg, einem kleinen Bergarbeiterort in West Virginia, waren die Leute durch die Kirche, die Gewerkschaft und den steten Fortschritt des Ortes miteinander verbunden. Alle diese Dinge begannen vor rund 20 Jahren zu scheitern. Die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften schwand, die Kirche wurde zu einer eigenartigen Einrichtung, wesentlich politischer und extremer als vorher, und die Stadt fing an zu zerfallen, weil sie ihre ökonomische Basis verlor. Die Leute hörten auf, Zeit miteinander zu verbringen, zogen sich in ihr Heim zurück und schauten Fox News. Wie die Betonmauern war das eine physische Repräsentation eines psychologischen Wandels.

 

Welche Rolle hat der Niedergang des Lokaljournalismus gespielt.

 

Eine enorme Rolle. In der Lokalzeitung wurden die Menschen Zeile um Zeile daran erinnert, dass sie Teil eines Gemeinwesens sind. Dieses Gefühl der Gemeinschaft mit meinen Nachbarn ist ein wesentlicher Teil der Demokratie. Und sobald ich mich nicht mehr mit meinen Nachbarn verbunden fühle, fange ich an, ihnen zu misstrauen. Tocqueville hat bei seinen Reisen durch Amerika etwas beobachtet, was er als „richtig verstandenes Eigeninteresse“ bezeichnete. Wir haben einmal die Kunst beherrscht, das Eigeninteresse und das Gemeinwohl auszubalancieren. Im Moment sind wir dabei, diese Kunst zu verlernen.

 

Wann begann dieser Prozess?

 

Ich denke, der effektivste Kritiker des Gemeinwohls war Ronald Reagan. Er hat einen Krieg gegen die Mythologie des Gemeinsinns geführt und war dabei ungeheuer geschickt. Er war ein herausragender Fürsprecher für die Mythologie des Individuums. Von da aus führt eine direkte Linie zu Donald Trump, der den Kult der rücksichtslosen Selbstbereicherung verkörpert.

 

Für Sie ist also Trump ein Symptom für kulturelle Entwicklungen. Die grundlegenden Probleme in der US-Gesellschaft bleiben also bestehen, auch wenn Trump verschwindet.

 

Auf jeden Fall. Die Fixierung darauf, ob er denn zurückkommen könnte, ist fehlgeleitet. Wenn er nicht zurückkommt, dann haben wir Ron DeSantis oder einen anderen Typen diesen Schlags, die von derselben Energie getragen werden. So lange wir nicht diese Energie anerkennen und verstehen lösen wir die Probleme nicht. Und das versuche ich ja mit diesem Buch. Ich versuche zu verstehen, wie jemand wie Trump möglich wurde.

 

Sich mit der Person Trump zu beschäftigen verstärkt also in gewissem Sinn das Problem, anstatt es zu lösen.

 

Ich habe das Gefühl, es stimuliert die falsche Seite des Gehirns. Ich glaube selbst diejenigen von uns, die Trump extrem kritisch gegenüberstehen, beziehen eine gewisse Lust daraus, ihn zu beobachten, die unwiderstehlich ist. Und es ist natürlich leichter, über einen Mann zu reden, als sich mit komplexen kulturellen Strömungen auseinander zu setzen. Denn das kann für viele von uns unbequem werden, gerade wenn man, so wie ich, aus der privilegierten weißen Mittelschicht stammt. Leute wie wir müssen anerkennen, dass die Gründe, warum es uns gut geht, dieselben Dinge sind, die Trump ermöglicht haben. Ich bin im Besitz vieler Statussymbole, die mir einen angenehmen Platz in der Gesellschaft sichern, die aber vielen anderen Menschen nicht zugänglich sind.

 

Der Prozess der Erneuerung, der jetzt nötig ist, wird also ganz sicher nicht mit einer Wahl abgeschlossen sein.

 

Ganz sicher nicht. Es hat eine Generation gebraucht um dort hin zu geraten, wo wir jetzt stecken. Es wird eine weitere Generation brauchen, um dort wieder heraus zu kommen.