Die chinesische-stämmige Minderheit in den USA ließ Jahrzehnte lang stumm die Diskriminierung über sich ergehen. Jetzt haben Sie genug

Focus, März 2021

Jim und Betty Chang wirken ein wenig scheu, wie sie da am Rand des Columbus Park im Zentrum der New Yorker Chinatown stehen. So ganz trauen sie sich nicht, sich mitten ins Geschehen zu werfen an diesem strahlend schönen Frühjahrssonntag im März 2021, hinein unter die Tausenden von Menschen, die gekommen sind, um mit Schildern, Sprechgesängen und erhobenen Fäusten gegen anti-asiatischen Rassismus in Amerika zu demonstrieren.

 

 

„Ich habe mich nie als besonders politischen Menschen gesehen“, sagt Jim, ein Mitsechziger in einer Sportjacke, den man an einem solchen Sonntag eher auf dem Golfplatz vermuten würde, als bei einer Großdemonstration. „Aber genug ist genug. Wenn wir jetzt nicht aufstehen, wann dann“, sagt er, ohne Zorn aber mit bestimmtem Ton.

Drei Tage zuvor war in Atlanta der 21 Jahre alte Robert Aaron Long Amok gelaufen. Er war mit einer Neun Millimeter Handfeuerwaffe in drei verschiedene Massage-Salons gestürmt und hatte wahllos angefangen, die Angestellten nieder zu schießen. Am Ende waren acht Menschen tot, sechs davon Frauen asiatischer Herkunft.

Die Tat löste bei vielen der rund 22 Millionen asiatisch-stämmigen Amerikaner die gleiche  Reaktion aus, wie bei Mr. Chang. Wie in der New Yorker Chinatown ging am letzten Märzwochenende des Jahres 2021 die Bevölkerungsgruppe, die seit jeher als still und duldsam gilt, in Städten quer über den nordamerikanischen Kontinent auf die Straße und erhob ihre Stimme. „Genug ist genug.“

Nicht, dass die asiatisch-stämmigen Amerikaner, korrekt „Asian American and Pacific Islanders“ genannt, Diskriminierung nicht gewohnt waren. Wie die Afroamerikaner haben sie erst seit Mitte der 60er Jahre volle Bürgerrechte. Und wie bei den Afroamerikanern hat die juristische Gleichstellung weder Alltagsrassismus noch gewalttätige Übergriffe verhindert.

Nur all zu gut sind asiatisch-stämmigen Amerikanern Geschichten wie die von Vincent Chin in Erinnerung, der 1982 in einer Bar in Michigan mit Baseball Schlägern zu Tode geprügelt wurde. Man machte ihn für den Verlust von Arbeitsplätzen in der Autoindustrie verantwortlich, weil man ihn für einen Japaner hielt. Dabei war Chin in der chinesischen Provinz Guangdong zur Welt gekommen.

Oder den Fall von Danny Chen, der in der US Armee gedient hatte und der 2011 Selbstmord beging. Als Grund dafür vermutete man die ständige, teilweise gewalttätige Diskriminierung Chens durch seine Kameraden, über die Chen seit Jahren geklagt hatte.

Bei all diesen Vorfällen hielten die asiatisch-stämmigen Amerikaner still. Doch seit dem Beginn der Pandemie empfanden sie ihre Lage zunehmend als unerträglich. Befeuert von Donald Trumps anti-chinesischer Rhetorik haben die Übergriffe gegen asiatische Amerikaner über Hand genommen. Knapp 11,0000 Übergriffe gab es laut offizieller Statistiken in den Jahren 2020 und 2021, 150 Prozent mehr als in den Jahren zuvor. Die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher.   

Alleine am Wochenende der Proteste im März 2020 fanden alleine in New York fünf Angriffe statt. Nur Schritte vom Columbus Park schlug man in der U-Bahn einen 66 Jahre alten Mann mit einem Metallrohr ins Gesicht. In Midtown Manhattan wurde eine chinesisch-stämmige Frau zu Boden gestoßen. Ein 68 Jahre alter Mann aus Sri Lanka und ein 66 Jahre alter Chinese wurden ins Gesicht geschlagen.

Ein Jahr später hatte sich die Lage kaum gebessert. Im Februar 2022 schockierte die Geschichte von Christina Yuna Lee die New Yorker Chinatown. Die 35 Jahre alte Musik-Produzentin wurde von einem Mann bis in ihre Wohnung in der Christie Street verfolgt. Der Mann ermordete sie mit 40 Messerstichen. In den Wochen zuvor hatte ein anderer Mann fünf verschiedene Frauen in Chinatown, angegriffen, geschlagen und bespuckt.

Immerhin haben die landesweiten Proteste des Jahres 2020 eine gesteigerte Sensibilität für den Hass gegen asiatische Amerikaner gebracht. „Die Diskriminierung gegen asiatische Amerikaner wurde lange Zeit nicht wahrgenommen“, sagt Mohan Seshradi von der Allianz asiatischer Amerikaner in New York. „Wir galten als still und angepasst. Jetzt wachen endlich die Leute auf und sehen, dass anti-asiatische Diskriminierung Teil unseres politischen und gesellschaftlichen Systems ist“.

Immerhin schlägt die neue Regierung in Washington einen neuen Ton an. Joe Biden hat wiederholt die Bezeichnung des Corona-Virus als „China-Virus“ oder als „Kung-Fu“ Virus, die Donald Trump so gerne verwendete, verurteilt. Nach dem Massenmord von Atlanta bekundete er Solidarität mit der asiatisch-amerikanischen Bevölkerung der USA bekundet und rief zu einem Ende der Gewalt auf. Und auch die Tatsache, dass Kamala Harris asiatischer Abstammung ist, macht asiatisch-stämmigen Amerikanern Hoffnung.

Zudem gab es auch einen handfesten politischen Erfolg. Nach den Morden von Atlanta verabschiedete im Mai 2021 der Kongress, ein „Covid 19 Hate Crime“ Gesetz. „Es gibt jetzt Mittel für den Selbstschutz und dafür, die Aufmerksamkeit auf unsere Probleme zu lenken“, sagt Seshradi. „Es ist ein Anfang.“

Aber die Tatsache, dass die Weltmacht China der Rivale Nummer Eins der USA ist, wird sich so rasch nicht ändern. Joe Biden steht innenpolitisch unter enormem Druck, Trumps harte Linie gegen China fort zu setzen. Und so wird das Feindbild China, das sich in vielen amerikanischen Köpfen festgesetzt hat, nicht so schnell verschwinden.

Viele asiatisch-stämmige Amerikaner fühlen sich deshalb an ein dunkles Kapitel in der amerikanischen Geschichte erinnert. Während des Zweiten Weltkriegs wurden 120,000 japanisch-stämmige Amerikaner in Internierungslager eingesperrt. Als Internierungsgrund reichte alleine ihre ethnische Herkunft. 1800 von ihnen starben in diesen Lagern an ansteckenden Krankheiten. Alle 120,000 wurden dazu gezwungen, einen Treueeid auf ihr amerikanisches Vaterland zu schwören, obwohl sie amerikanische Staatsbürger waren.

Angesichts der Tatsache, dass sich die Geschichte nun zu wederholen droht, dass sie in Amerika dem schwelenden Mißtrauen einfach nicht entkommen können, macht sich unter vielen asiatisch-stämmigen Amerikanern eine gewisse Müdigkeit breit. „Wir sind einfach nur erschöpft“, sagt etwa Karlin Chan, ein 65 Jahre alter Sino-Amerikaner, der schon sein ganzes Leben in der New Yorker Chinatown lebt.

Chan straft jedes Klischee des stillen, unterwürfigen Asiaten Lügen. Er ist Einsachzig groß und kräftig und spricht mit einem harten New Yorker Straßenakzent Englisch. Dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund: „Ich esse von niemanden Scheiße“ sagt er mit einem breiten Grinsen, während wir in einem Straßencafe auf der Mott Street, nur Schritte vom Columbus Park entfernt, sitzen.

Die jüngste Welle an Attacken überrascht Chan nicht im Geringsten: „Dieses Land ist auf Rassismus aufgebaut“, sagt er. Dass asiatische Amerikaner jetzt endlich auf die Straße gehen und sich die Übergriffe nicht mehr gefallen lassen, findet er zwar einerseits gut. Andererseits hat er wenig Hoffnung, dass es etwas ändert.

Chan hat in seinen 60 Jahren in Chinatown zu viel erlebt, als dass er noch Illusionen hätte. Schon seit den 70er Jahren hilft der Mann, der sich als „Community Activist“ bezeichnet, Opfern von Übergriffen. Einwanderern der ersten Generation etwa, die nicht gut Englisch können. „Wenn die Bullen kommen, werden sie zum zweiten Mal zu Opfern. Die Angreifer behaupten einfach, die Chinesen hätten angefangen.“ Verurteilungen für die Attentäter, so Chan, gäbe es nur selten.

Auch was Chinatown selbst angeht, ist Chan zynisch, auch wenn es seine Heimat ist und er niemals irgendwo anders hinziehen möchte. „Die Touristen finden es hier exotisch“, sagt er. „Sie sehen die Restaurants, die Märkte mit ungewöhnlichen Lebensmitteln und Gewürzen, sie lieben den Klang der fremden Sprache mitten in New York und bei den älteren Leuten der traditionellen Tracht. Sie kommen gerne zu den Straßenfesten und zum Feuerwerk am chinesischen Neujahr“. Die Wahrheit sei aber, dass es ein Slum sei: Billige, miserable Wohnquartiere, Schmutz und ungenügende Hygiene für eine Einwanderergruppe, die niemand sonst haben möchte.  

Wie wenig Amerika historisch die chinesischen Einwanderer willkommen geheißen hat, hat Karlin in seiner eigenen Familie erlebt. Karlins Großvater kam als Arbeiter um die Wende zum 20. Jahrhundert in die USA. Wegen des „Chinese Exclusion Act“, des einzigen Einwanderungsgesetzes der USA, das eine bestimmte ethnische Gruppe zum Ziel hatte, durfte er jedoch seine Familie nicht mitbringen. Besuche gab es nur alle paar Jahre.

Das Gesetz wurde erst 1965 wieder revidiert. Sowohl Karlins Vater als auch sein Großvater waren alleine in den USA, die Familien blieben in China. „Die Chinatowns in den USA waren reine Junggesellenviertel“. Karlins Vater bekam seine eigene Mutter 30 Jahre lang nicht zu Gesicht. Karlin selbst wurde noch in China geboren und kam mit zwei Jahren in die USA. Er gehörte zur ersten Generation von Chinesen, die in den USA eine eigene Familie gründen durften. „Rassismus gegen Asiaten“, so Karlin, „war 70 Jahre lang offizielle nationale Politik.“

Daran fühlten sich Chinesen von Karlins Generation nur all zu gut erinnert, als Donald Trump an die Macht kam. Trumps Hetze weckte die erneute Furcht, dass es jederzeit wieder so werden könnte wie früher.

So liegt die Hoffnung, dass irgendwann einmal Amerikaner asiatischer Herkunft Amerikaner wie alle anderen sind, bei der nächsten Generation. Bei jungen Asiaten wie dem vietnamesisch-stämmigen Duy Bandeston, der hier in Chinatown lebt und auf die Highschool geht.

An jedem Montagabend trifft Duy sich mit ein paar Klassenkameraden an einer Ecke des Columbus Park. Mit Flugblättern bewaffnet ziehen sie die Teenager durch das Viertel und bieten ihre Hilfe an, insbesondere älteren Mitbürgern, die Angst haben. Sie müssen nur eine Nummer wählen und Duy und seine Kameraden kommen, um sie zur U-Bahn oder zum Einkaufen zu begleiten. Sie wollen etwas tun, wollen helfen.

„Wir müssen uns in unserem eigenen Viertel wieder sicher zu fühlen“, sagt Duy. Chinatown sei schließlich ihre Heimat. Sie haben keine andere. Und Duys Generation ist entschlossen, darum zu kämpfen.