In Grimaldos Reich

Durch den Atlantik vor Brighton Beach zu kraulen ist das reine Glück

 

Frankfurter Rundschau, Magazin, 12.5.2022

Es ist einer der letzten Badetage des Jahres 2021 und das Wasser vor Coney Island ist glasig klar. Die Strahlen der Septembersonne breiten sich wie warme Milch über dem glatten Meer aus, das heute dem Schwimmer besonders wohl gesonnen ist. Man hat es nicht, wie häufig, mit stetigen Attacken anderthalb Meter hoher Brecher zu tun, die einem den Magen umdrehen und jeden ruhigen Schwimmrhythmus verhindern. Es ist so klar, dass man drei Meter unter sich die Fische schwimmen sieht und die die Noten von Dieselöl und Kloake, die man an stürmischeren Tagen mit jedem Mundvoll mitbekommt, sind heute nur in leichten Spuren vorhanden.

Wenn ich nach links atme, hinaus aufs offene Meer, sehe ich am Horizont die Umrisse gigantischer Containerschiffe,  die wie Burgen aus dem Meer wachsen und  an der Südküste von Long Island entlang Schlange stehen, um in die Bucht von New York einzufahren und am Hafen von Bayonne gelöscht zu werden. Rechts fällt mein Blick prominent auf die geschwungene Fassade des New Yorker Aquariums, an dessen Außenseite Zehntausende kleiner Aluminiumplättchen in der Sonne tanzen und das Meer widerspiegeln.

Wenn ich, der Orientierung halber, nach jedem halben Dutzend Züge den Kopf leicht anhebe und nach vorne schaue, fällt der langgezogene Pier von Coney Island in den Blick, auf dem ein paar Dutzend puertorikanische Angler stehen und ihr Glück versuchen. Gleich rechts davon ragt das alte Riesenrad von Coney Island in den Himmel und der Cyclone, die mehr als 90 Jahre alte Achterbahn, die von den großen Zeiten Coney Islands als Amüsierbezirk von Weltrang künden. In der Mitte des Panoramas ragt der Parchute Jump aus dem Strand, die einst größte Attraktion von Coney Island, bei der sich waghalsige Wochenendler an Seilen mit einem Fallschirm aus 30 Meter Höhe der Erde entgegen stürzten. Doch der Jump ist seit Jahrzehnten nicht mehr in Betrieb, das Pilz-artige Gerüst ist ein Denkmal an jene große Zeit der berühmten Insel am Südrand von Brooklyn.

Während ich mich, nur das Platschen meiner Arme und das Gurgeln des Meeres im Ohr, Zug um Zug dem Pier nähere, habe ich Zeit, mir vorzustellen, wie damals wohl der Blick auf Coney Island von hier aus gewesen sein muss. Als die hell erleuchteten Kuppeln und Zinnen der Amüsierparks Luna Park und Dreamland wie eine Miniaturskyline in den Himmel ragten; als es noch drei überdachte Piers mit Attraktionen gab, als ein enormer begehbarer Elefant und das vornehme Half Moon Hotel über den Boardwalk, der viel besungenen Bretterpromenade von Coney Island ragten und der Horizont noch nicht von den monströsen grauen Sozialbautürmen der 60er Jahre verstellt war.

Coney Island, so schrieb der Stadttheoretiker Rem Kohlhaas in den 70er Jahren, war damals, zwischen 1900 und 1930 so etwas wie ein Prototyp für Manhattan, ein Testlauf für die vertikale Architektur und die Kultur der Dichte, die bis heute die Hauptstadt der Moderne ausmacht. Dann, als Manhattan zum kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum der westlichen Welt geworden war, hatte Coney Island seinen Dienst getan. Man ließ es verkommen und  in mehreren Großbränden abbrennen. Der große Stadtplaner Robert Moses ersetzte, nicht zuletzt mit Hilfe von Donald Trumps Vater Fred,  große Teile des Amüsierbezirks sowie die Einfamilienhäuschen dahinter durch brutalistische Wohntürme. Was an Attraktionen und Amüsiergelegenheiten übrig war, bekam den Geruch des schlüpfrigen und halbseidenen.

An den Strand kamen die Leute dennoch weiterhin. Wenn man heute in Ruby‘s Bar direkt am Boardwalk geht, kann man hinter Theke noch die berühmten Fotos aus den 40er und 50er Jahren sehen, auf denen vom Pier aus bis nach Brighton Beach nicht einmal mehr Platz für einen einzigen Sonnenschirm in der Masse von Körpern zu sein scheint. Coney Island war für die einfachen New Yorker, damals wie heute, der erreichbarste Strand. Man stieg auf der Lower East Side in die U-Bahn und war für ein paar Cent nach einer Dreiviertelstunde hier, konnte baden und flirten und sich bei Nathans an der Surf Avenue einen Hot Dog und ein Bier schmecken lassen.

Ich bleibe etwa 100 Meter vor dem Pier stehen, um nicht den Zorn der Angler auf mich zu ziehen. Ich ziehe die Schwimmbrille ab und blinzele in die Sonne und lausche den Stimmen, die gedämpft vom Strand aus über das Wasser zu mir dringen. Dann gilt es Peilung für den Rückweg auf zu nehmen, vorbei am Wonderwheel und am Cyclone, vorbei am Aquarium, um die steinernen Dämme herum, welche die Strandabschnitte von einander trennen und vor Sturmschäden schützen und auf die Aneinanderreihung von Hochhäusern zu, die den Beginn von Brighton Beach markieren.

Dort, an der Ecke von Brighton Fourth Street ist schon aus einem Kilometer Entfernung die grüne Markise von Tatiana’s zu sehen, dem Vorposten der russischen Enklave Brighton Beach.  Bei Tatiana wird es später einen Teller Borscht und ein Bier geben, auf die der Schwimmer sich während des gesamten Rückwegs freut.

Unmittelbar vor Tatiana’s steht im Sand  ein Bademeisterstuhl, ein kleiner weißer Turm auf dem während der Saison stets ein durchtrainierter, braun gebrannter junger Mensch in einem roten T-Shirt und mit einer Trillerpfeiffe im Mund thront und darauf achtet, dass niemand zu weit hinaus schwimmt und dass keine Jetskis oder Motorboote den Badenden zu nahe kommen. An den rund zweieinhalb Kilometern zwischen der Grenze von Brighton Beach zu Manhattan Beach im Osten und zwischen Coney Island und dem Privatstrand Sea Gate im Westen, gibt es Dutzende solcher Stühle, etwa alle zweihundert Meter sind sie positioniert. Doch dieser hier ist ein besonderer Stuhl.

Eine kleine Kupferplakette an der Rückenlehne des Stuhls weist ihn als „Grimaldo’s Chair“ aus, doch nur die Eingeweihten wissen, wer Grimaldo war. Patricia Sener etwa, die Präsidentin einer Organisation namens „CIBBOWS“, einer etwas umständlichen Abkürzung für „Coney Island and Brighton Beach Open Water Swimmers“.

Patricia ist eine von etwa zwei Dutzend Schwimmern, die sich Wochenende um Wochenende hier an Grimaldo’s Stuhl treffen, um zu gemeinsam im Meer zu schwimmen. Unter Schwimmen verstehen die Cibbows allerdings nicht das übliche Planschen um hüfttiefen Wasser, das der gemeine Strandbesucher meint, wenn er oder sie vom Schwimmen im Meer spricht. Die Cibbows sind ein furchtloser Haufen. Viele von ihnen haben schon Manhattan schwimmend umrundet oder den Ärmelkanal durchquert. An jedem beliebigen Samstag schwimmen sie hier vom Chair zum Coney Island Pier und zurück. Nicht selten geht es dann noch weiter bis nach Manhattan Beach um die fünf Kilometer voll zu machen. Und viele wiederholen das Ganze dann noch einmal am Nachmittag, nach einem Mittagessen bei Tatianas.

„Grimaldo“, erinnert sich Patricia, deren strähniges, verblichenes Haar sie als Strandmenschen entlarvt, „war ein ganz besonderer Mensch“. Bevor der Bademeister aus Brooklyn, der in Panama aufgewaschen war, im Alter von nur 34 Jahren an Blutkrebs starb, war er so etwas wie der Schutzpatron der Freiwasser-Schwimmer von New York.

Grimaldo kannte sie alle und er vertraute ihnen. Er wusste, wie gut sie schwimmen konnten und pfiff sie deshalb auch nicht zurück, wenn sie ihre großen Runden drehten. Deshalb begannen sie sich an seinem Stuhl zu treffen. Und oft ging er, wenn hinter der Küste von New Jersey die Sonne unterging, mit den Cibbows zu Rubys um ein paar Bier zu trinken.

Heute veranstalten die Cibbows einmal im Jahr zu ehren von Grimaldo ein Rennen, die Grimaldo’s Mile. Man startet am Pier und klettert an Grimaldo’s Stuhl wieder aus dem Wasser und jeder, der es geschafft hat, bekommt einen Blumenkranz um den Hals. Und natürlich geht es danach zu Ruby‘s oder zu Tatiana.

Ich persönlich hatte die CIBBOWS vor vielen Jahren über die Grimaldo‘s Meile kennen gelernt. Ich war engagierter Schwimmer und hielt mich mit mehreren wöchentlichen Gängen in New Yorker Hallenbäder fit und eines Tages fragte mich ein Bahnnachbarin, ob ich nicht Lust hätte, mit nach Coney Island zu kommen und die Grimaldo‘s Meile zu schwimmen.

Ich ließ mich überreden und überlebte tatsächlich die Expedition, auch wenn ich wegen mangelhafter nautischer Fähigkeiten einen riesigen Umweg schwamm und am Ende bestimmt mehrere Liter Salzwasser geschluckt hatte. Doch die Initiierung in diese Gruppe von Exzentrikern gefiel mir.

So unternahm ich in jenem Sommer noch ein paar Mal die beinahe anderthalb Stunden lange Reise mit der U-Bahn von Harlem aus quer durch Manhattan und Brooklyn nach Brighton Beach. Es war jedes Mal ein Abenteuer. Alleine schon die Ankunft an der U-Bahn Station Brighton Beach, die auf Stelzen hoch über der Brighton Avenue thront und bereits vom Waggon aus, zwischen Backsteinhäusern einen Ausblick auf das Meer frei gibt, rief ein Gefühl freudiger Aufregung bei mir hervor.

Der Spaziergang von der Brighton Avenue zum Boardwalk steigerte dieses Gefühl, man war jäh in einem anderen Land gelandet. Auf der Straße wurde nur noch russisch gesprochen, Frauen mit auftoupiertem Haar verkauften frische gemachte Pelmeni, frittierte Teigtaschen mit Kartoffel- oder Fleischfüllung.  Die Supermärkte hatten exotische Köstlichkeiten wie Sauerkirschen aus Moldova, Schwarzdorn Marmalade aus Azerbijan sowie eine endlose Auswahl an eingelegetem Gemüse in der Auslage. Aus den Eckläden dröhnte schmalziger Russland-Pop. Die Tatsache, dass die U-Bahn-Schienen noch immer auf Stelzen über die Avenue liefen und das Rattern der Züge im Sieben Minuten Takt jedes Gespräch erstickte, erweckte den Eindruck einer Zeitreise. So muss es vor 80 Jahren noch auf der Lower East Side in Manhattan zugegangen sein.

Je besser ich die Mitschwimmer der CIBBOWS kennen lernte, desto mehr lernte ich auch über die Tradition der Freiwasser-Schwimmer in New York und speziell hier in Brighton Beach.  Immer wieder fiel der Name Getrud Ederle und die Geschichte ihrer fantastischen Taten in den 20er Jahren, als die Menschen zu Zehntausenden an den Strand kamen, um Ederle schwimmen zu sehen.

Die Tochter eines deutsch-stämmigen Metzgers aus Harlem hatte 1924, bei den Olympischen Spielen in Paris, eine Goldmedaille im Schwimmen gewonnen, doch ihren Ruhm begründete sie erst danach, als Berufsschwimmerin. Ederle weigerte sich, Grenzen zu akzeptieren, weder vermeintliche Leistungsgrenzen, noch jene, die seinerzeit die Gesellschaft jungen Frauen noch auferlegte. So unternahm sie im Jahr 1926 als erste Frau das Wagnis, den Ärmelkanal zu durchpflügen.

Dabei trug sie einen Badeanzug, der in der damaligen Zeit für Frauen als unschicklich galt, der aber der Sportlerin die Fortbewegung im Wasser um Vieles erleichterte. Ederle schaffte es nicht nur mit Leichtigkeit die Meerenge zwischen Dover und Calais zu durchpflügen, sondern sie brach auch noch den bestehenden Rekord, von einem Mann gehalten.

Ihre Heimatstadt New York veranstaltete für sie bei der Rückkehr eine Konfetti-Parade am Broadway, bei der zwei Millionen Menschen sie bejubelten. Sie wurde zum Superstar der 20er Jahre und zur feministischen Ikone, zu einer jener mit einem gänzlich neuen Selbstbewusstsein ausgestatteten „New Women“, die jene Epoche hervor brachte.

So muss ich oft an Gertrud Ederle denken, wenn ich mich, mit der Markise von Tatiana’s im Blick von Coney Island nach Brighton Beach durch die Wellen kämpfe, an sie und an viele der starken Frauen im Cibbows Umfeld, die sie inspiriert. Meine Freundin Abigail etwa, die Manhattan schon mehrfach umrundet hat, die Meerenge von Catalina Island nach Los Angeles durchmessen und den Ärmelkanal überquert.

Einmal im Jahr ehrt Abigail zusammen mit ihrer Freundin Hannah Getrud Ederle, in dem sie die in Insiderkreisen „Ederle Swim“ genannte Route abschwimmt. Die Strecke, die Ederle als erste Schwimmerin überhaupt bewältigte, führt von der Westseite Manhattans den Hudson hinunter, an der Freiheitsstatue vorbei in die Bucht von New York, dann unter der Verazzano Bridge hindurch hinaus aufs offene Meer um dann nach etwa fünf Stunden am Strand der kleinen Insel Sandy Hook anzukommen, die, der Küste von New Jersey vorgelagert, direkt gegenüber von Coney Island liegt.

Bis ich so richtig Teil dieser Subkultur wurde, dauerte es allerdings ein paar Jahre. Bis zum Frühjahr von COVID war ich nur gelegentlicher Gast, mehr interessierter Beobachter, als Teilhaber. Doch dann kamen die schrecklichen Wochen im Februar und März des Jahres 2020, als wir alle verschreckt in unsere Wohnungen eingesperrt waren und Manhattan zur Geisterstadt wurde.

Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag Anfang Mai, als ich mich in Harlem auf mein Fahrrad schwang, weil man der U-Bahn noch nicht recht traute, und mich auf den beinahe zwei Stunden langen Weg nach Brighton Beach machte, am Hudson entlang über die Manhattan Bridge, durch neue und unbekannte Nachbarschaften wie Sunset Park, dann an der Bucht entlang mit Blick auf Staten Island, immer parallel zu Ederles Route.

Die Cibbows waren alle da an diesem Sonntag, man hatte große Kreise in den Sand gemalt um den geforderten Abstand zu halten, doch alleine hier zu sein, den Himmel und das Meer zu sehen und zu riechen, Weite im Auge und Sonne auf der Stirn zu haben, war ein Gefühl, das ich nie vergessen werde. Nie war ich so befreit. Und so blieb ich auch so lange im noch empfindlich kalten Wasser, bis die Lippen und die Finger blau waren und ich mit dem Schlottern gar nicht mehr aufhören konnte.

Das Gefühl der Befreiung war so süß, dass ich es kaum erwarten konnte, das nächste Mal nach Brighton Beach zu kommen. Durch Covid lernte ich nach zu vollziehen, was es für die Menschen in den bedrängten und schmutzigen Einwandererquartieren in heißen Sommern vor 100 oder vor 80 oder vor 60 Jahren bedeutete, hier hinaus nach Coney Island zu kommen und zu baden.

Seither ist die sonntägliche Fahrt in der Saison zwischen Mai bis in den Oktober hinein zu einem festen Teil meines Lebens geworden. Ich kann es meist schon am Donnerstag kaum erwarten, mich hier in Harlem mit dem dicken Packen der Sunday Times unter dem Arm in den A Train zu setzen und mich 40 Kilometer weit quer durch die große, große Stadt ans Meer rattern zu lassen.

Und wenn ich dann nach einer Stunde in den „heilenden Gewässern von Brighton Beach“, wie es eine Mitschwimmerin einmal ausgedrückt habe, nach einer Stunde oder etwas mehr über zerbrochene Muschelreste zum Grimaldo’s Chair hinauf stackse, dann erfüllt mich ein fast perfektes Glück.

Es gibt keinen Traumstrand in der Karibik oder auf den Malediven, den ich je mit diesem Flecken tauschen möchte. Ich möchte nicht diese Gruppe an Exzentrikern missen, die da am Grimaldo’s Chair sitzen, nicht die Containerschiffe, nicht die Sportflugzeuge, die mit Werbebannern an schönen Tagen den Strand auf und ab fliegen, nicht die unförmigen, tätowierten Körper, die sich da zu lauter Musik in der Sonne aalen und nicht die alten russischen Damen auf dem Boardwalk, die dort aufs Meer blicken und den Tag verplaudern.

Sogar durch den langen kalten Winter von New York hilft mir der Gedanke an Brighton Beach. Wenn sich in Harlem der Schnee schmutzig und grau um die Autos herum auftürmt und der Wind eisig vom Hudson herauf pfeifft, dann muss ich nur die Augen schließen und mir vorstellen, dass ich am Pier im Wasser stehe, eine viertel Meile vom Strand entfernt und mit salzigem Mund in die Sonne blinzele. Das reicht um durch den Tag zu kommen.