New Yorks berühmteste Straße verkörpert, was die Stadt, ja, was Amerika ausmacht: Kommerz, Kreativität und Wandel. Doch wie hat sie sich in Zeiten von Corona und Trump verändert? Ein Focus-Team machte sich auf Erkundungstourund wanderte von Harlem bis zur Wall Street. 21 Kilometer Geschichte
Focus 39/2020
Wenn man dem Broadway zu seinem Ursprung folgen wollte, müsste man vom Times Square aus rund 50 Kilometer nach Norden pilgern. Dort, im Örtchen Sleepy Hollow, nach einer alten amerikanischen Gruselgeschichte benannt, haben vor Hunderten von Jahren die Wecquaesgeek einen Trampelpfad angelegt, der sie an die Mündung des Flusses im Süden der Insel Manahattan führte. Seither ist der Trampelpfad zum Symbol für Größe und Glanz New Yorks geworden.
Doch wir sparen uns die Exkursion und bleiben in Manhattan um an einem verregneten Freitagmorgen unsere Erkundung im Norden Harlems zu beginnen. Hier, an der Kreuzung Broadway und St. Nicholas Avenue, ist der Verkehr aus den Vorstädten in das kommerzielle Herz der Stadt auch im sechsten Monat der Pandemie noch immer so ruhig, als wäre es Sonntag. Das Zeitungskiosk am U-Bahn Eingang hat die Rolläden herunter gelassen. Die Fensterscheiben eines Cafes in der Mitte des Blocks sind mit Pappe verklebt.
An der Westseite des Boulevards erhebt sich über zwei Stockwerke eine reich ornamentierte Terra-Cotta Fassade vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Erst wenn man zurück tritt sieht man, dass man nachträglich ein sachliches Verwaltungshochhaus dahinter gesteckt hat.
Bevor die medizinische Fakultät der Columbia University hier ein Forschungszentrum gebaut hat, verbargen sich hinter der Fassade ein Theater und ein Ballsaal. Berühmt wurde das Gebäude, als am 21. Februar 1965 der Bürgerrechtler Malcom X erschossen wurde, während er in dem Ballsaal eine Rede hielt.
Der Mord an Malcolm X bleibt so mysteriös wie der Kennedy Mord. Doch im kollektiven Bewusstsein des schwarzen Amerikas symbolisiert der Tod von X vor allem eines: Wer gegen die weiße Suprematie in diesem Land aufbegehrt, der riskiert sein Leben.
Direkt auf der anderen Seite des Broadway erhebt sich wie eine Festung ein massiver Betonkoloss. Es ist das Hauptgebäude des Columbia Presbyterian Hospital, dessen Satelliten sich auf das ganze Viertel verteilen. In der Zufahrt ist es ruhig, zwei Ambulanzen warten, einige Patienten stehen auf dem Bordstein und rauchen.
Mittlerweile hat sich der Betrieb im Columbia Presbyterian „beinahe normalisiert“, wie eine Krankenschwester in der Notaufnahme berichtet. Anders als noch vor ein, zwei Monaten trauen sich mittlerweile sogar wieder Patienten mit alltäglichen Unfall-Verletzungen her und nicht nur Covid Erkrankte.
Mitte April war Columbia Presbyterian, das größte Krankenhaus New Yorks, das Zentrum der erbitterten Schlacht, welche die Stadt gegen den Virus führen müsste. Krankenhäuser wie das Columbia Presbyterian waren hart an den Grenzen ihrer Kapazität. Das Krankenhaus wagte als erstes die riskante Prozedur, zwei Patienten auf einmal mit einem einzigen Ventilator zu beatmen. Trotzdem stapelten sich in den Gängen die Leichen.
Doch New York reagierte auf das Virus entschieden und drastisch. Und so gilt die Stadt heute als USA-weit vorbildlich in der Pandemie Bekämpfung. Zu einer Normalität, die diesen Namen verdient, ist die Stadt deswegen noch lange nicht gekommen.
Just als der New Yorker Gouverneur Cuomo es geschafft hatte, den Virus einigermaßen zu bändigen, machte sich ein anderer Virus, ein uramerikanischer Virus, auch in New York breit. Wie in vielen amerikanischen Städten gingen in New York nach dem Mord an George Floyd die Menschen zu Tausenden aus Zorn über den anhaltenden Rassismus des Landes auf die Straßen. Es kam zu handfesten Auseinandersetzungen mit der Polizei und in zentralen Shopping-Bezirken wie Midtown wurde damals Nacht für Nacht geplündert. Noch immer künden Bretter vor zerschlagenen Fensterscheiben davon. Es entlud sich ein angestauter kollektiver Zorn darüber, dass sich an den Dingen, gegen die schon Malcolm X protestiert hatte, noch immer nichts geändert hat.
Gute 20 Fußminuten südlich des Krankenhauses, im Herzen von Harlem, treffen wir in einem der vielen Cafes, die sich mit ihrer Bestuhlung eine Fahrspur des Broadway angeeignet haben, Kim. Kim ist eine auffallende Erscheinung, eine großgewachsene Afroamerikanerin mit einer dramatischen schwarzgrauen Krause und einem selbstgeschneiderten Outfit in schillernden Farben.
Kims Geschichte ist eine klassische Harlem Story, sie ist als Jugendliche aus dem ländlichen Süden hierher gekommen, um den Traum eines aufregenden urbanen Lebens zu jagen. Und sie hat es geschafft. Kim arbeitete bis Corona kam als Kostümbildnerin an der Metropolitan Opera.
Seit März ist sie jedoch, wie beinahe alle, die mit den aufführenden Künsten zu tun haben, arbeitslos. Doch das beschäftigt sie heute nicht. In der vergangenen Woche war der Wahlparteitag der demokratischen Partei und Kim ist aufgebracht.
„Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum die Demokraten wieder einen alten weißen Mann ins Rennen schicken“, sagt sie. Kim glaubt nicht, dass Biden wirklich den Rassismus in Amerika versteht und dass er wirklich dazu bereit ist, etwas dagegen zu tun. Und sie wird der demokratischen Partei im November dafür den Denkzettel verpassen. „Die denken, dass alle Schwarzen automatisch demokratisch wählen. Das gilt vielleicht für meine Eltern“, sagt sie. Aber sie hat genug von leeren Versprechen.
Selbst die Parolen der Demokraten, dass es um die Demokratie als solches gehe, können sie nicht bewegen. „Sie sagen, wer nicht für Biden wählt, der stimmt für Trump. Mir ist das ehrlich gesagt egal. Dann bekommt ihr eben alle zu spüren, wie es uns schon immer geht.“
Es ist eine Einstellung, die einem in Harlem in den vergangenen Monaten immer öfter entgegenschlägt. Nicht umsonst steht der „Afro-Pessimismus“ zur Zeit unter schwarzen Intellektuellen hoch im Kurs. Die Unterdrückung von Schwarzen, besagt die Theorie, ist kein Systemfehler der sich wegreformieren lässt. Sie ist vielmehr das Fundament, auf dem die amerikanische Gesellschaft steht. Ändern wird sich so lange nichts, bis die bürgerliche Gesellschaft zerschlagen wird. Insofern würde für eine Wiederwahl Trumps nur einen notwendigen Prozess beschleunigen.
Mit solch schweren Gedanken geht es weiter den Broadway hinunter durch das Manhattan Valley, wo die U-Bahn aus dem Untergrund kommt und auf einem rostigen Gerüst die Senke überbrückt, durch die sich die 125th Street vom Harlem River zum Hudson gräbt.
Früher sagte man, die Grenze zwischen Harlem und der Upper West Side sei die 110te Straße doch demografisch sind die Übergänge fließend geworden. Schon unmittelbar südlich der 125th Street beginnt sich Manhattan deutlich anders anzufühlen, das laute expressive Straßenleben macht der Ruhe eines gediegenen Wohnviertels Raum.
Doch die Ruhe und Gediegenheit haben in den vergangenen Wochen gelitten. Während viele der meist gut situierten Upper West Sider aus der Stadt geflohen und sich auf unbestimmte Zeit in Landsitzen auf Long Island und im Hudson Valley eingerichtet haben, ist eine neue Bevölkerung eingezogen. Auf Anordnung des Bürgermeisters wurden in mehreren Hotels auf der Upper West Side Obdachlose untergebracht, um die Verbreitung des Virus in den Notunterkünften zu unterbinden.
Das Lucerne an der 79th street ist eines dieser Hotels und an diesem Freitag gibt es auf dem Bürgersteig davor einen Auflauf. Eine Gruppe von Bürgern sind gekommen, um sich mit den Obdachlosen zu solidarisieren, die immer stärkeren Anfeindungen ausgesetzt sind. Die vermeintlich liberalen Upper West Sider fühlen ihre Lebensqualität und die Werte ihrer Immobilien bedroht. „NiMBYism“ heißt das hier, eine Kurzform für „Not in my back yard.“
Alan Alterman, der seit mehr als 40 Jahren hier lebt und heute gekommen ist, um sich solidarisch zu zeigen, widert eine solche Einstellung an. „Die Stadt hat 60,000 Obdachlose. Und durch die Wirtschaftskrise werden es immerh mehr. Wir können die nicht alle an die Stadtränder verbannen.“ Die Furcht, die manche seiner Mitbürger umtreibt, teilt er nicht. „Mir macht das nichts aus, wenn jemand am Broadway in eine Hecke pinkelt.“
Sie sind nicht nur hier auf der Upper West Side plötzlich sichtbar, die Wohnsitzlosen, für deren Not die Stadt seit Jahrzehnten keine Lösung findet. Man sieht sie jetzt überall, sie campieren auf der großen Freitreppe vor dem zentralen Postamt, in den Eingängen der vielen Läden, die während der Pandemie aufgeben mussten und überall in den Parks. Seit Covid werden die Räume immer enger für sie. Die Unterkünfte sind gefährlich, die Starbucks sind geschlossen und die U-Bahn wird über Nacht gereinigt. Und in den kommenden Wochen werden es noch deutlich mehr werden. Seit Anfang Juli ist in der Stadt das Moratorium auf Zwangsräumungen aufgehoben worden und man schätzt, dass bis Oktober rund 15,000 weitere New Yorker ihr Heim verlieren.
Wir erreichen den Times Square, zu besseren Zeiten das pulsierende Herz der Stadt, wo gewöhnlich Zehntausende von Touristen genervtem Bürovolk den Weg in die umliegenden Wolkenkratzer versperren. In Coronazeiten hat die Kreuzung jedoch etwas Gespenstisches bekommen. Es gibt kein Publikum für die hochhausgroßen Leuchtreklamen, die Piazza, welche die Kreuzung von Broadway und Seventh Avenue von der 48ten bis hinunter zur 42nd street bildet, ist leergefegt.
Von den Schaustellern, die sich sonst hier in Disney Kostüme werfen, um sich mit Touristen fotografieren zu lassen, ist weit und breit nichts zu sehen. Die einzige Attraktion ist die „Naked Cowgirl“, eine ältere Frau, die oben ohne und mit Cowboyhut posiert und ab und an ein paar schwarze Jugendliche findet, die mit ihr ein Selfie schießen und ihr dafür ein paar Dollar zustecken. Freak Show statt Touristenrummel.
Die 45te Straße, wo sich die Musical-Theater aneinander reihen, ist derweil vollkommen ausgestorben. Die Leuchtreklamen sind dunkel, die Kassenhäuschen mit Brettern vernagelt. 14,7 Millionen Menschen kamen im vergangenen Jahr hierher um sich Broadway Hits wie Hamilton anzuschauen. Seit März gab es keine einzige Vorstellung und die Zukunft bleibt ungewiss.
Belebt wird der Broadway erst wieder rund um die 34th Street, die „Lady’s Mile“, so genannt, weil sich hier die New Yorker Traditionskaufhäuser wie Lord and Taylor und Macy’s vedichteten. Sie hatten schon vor Covid Schwierigkeiten und Lord and Taylor musste im Juli endgültig die Tore schließen. Macy‘s, mit seinem stolzen Stammhaus, das zwischen Broadway und Sixth Avenue einen ganzen Block einnimmt, hat seine Immobilie beliehen und so gerade noch einmal die Kurve gekriegt. Jetzt begrüßt das Kaufhaus wieder die Einkäufer, die sich so freudig ins Getümmel stürzen, als hätte es Covid nie gegeben.
Während der Freitag sich dem Nachmittag zuneigt durchqueren wir den Park, der sich an der Kreuzung von Broadway und Park Avenue bildet – der Union Square Park. Der Tag ist freundlich geworden, die Sonne scheint und hat die Menschen ins Grüne gelockt. Obwohl es ein ganz gewöhnlicher Werktag ist, vertreibt sich die Downtown Boheme hier die Zeit, man liest, man plaudert, man flirtet und lauscht vor allem den vielen erstklassigen Jazz-Combos, die in Ermangelung anderer Auftrittsmöglichkeiten in diesen Tagen hier ihre Kunst zum Besten geben. Covid hat hier den gehetzten New Yorkern ein wenig Muse geschenkt.
Unmittelbar südlich des Union Square begradigt sich der Broadway, der bis hierher das geometrische Raster von Manhattan quer durchschnitten hat und reiht sich unter den Nord-Süd Tangenten der Insel ein. Man hat jetzt einen freien Blick auf das neue World Trade Center, das wie ein überdimensionaler Leuchtturm den südlichsten Zipfel der Insel markiert.
Unterhalb der Canal Street biegen wir links nach Chinatown ab, in eines der letzten intakten Einwandererviertel, die Manhattan noch besitzt. In der Pell Street, einer jener schmalen Gassen mit dem chaotischen Gewirr an Märkten und Straßenhändlern, das Chinatown ausmacht, treffen wir Karho Leung.
Karho ist einer von einer ganzen Gruppe von Millenials, die in Chinatown aufgewachsen sind und sich bewusst dafür entschieden haben, hier zu bleiben. Wie seine Eltern, die in den 60er Jahren aus China kamen, das wollten, hat er fleißig studiert und einen Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht. „Ich hätte irgendeinen Job in Midtown machen können“, sagt Karho. Doch stattdessen hat er hier in Chinatown einen Frisörsalon eröffnet, weil er dazu beitragen wollte, dass die Nachbarschaft auch in seiner Generation erhalten bleibt.
Karho hat seinen Shop Anfang Juni wieder eröffnet und seine Stammkunden, junge Chinesen wie er, die nach einem hippen Styling suchen, sind zurück gekommen. Doch Karho sieht Chinatown von allen Seiten bedroht. Viele der alteingesessenen Geschäfte haben nicht wieder eröffnet. Die Vermieter sind kurzsichtig und haben kein Nachsehen mit dem Einzelhändlern.
Und für Viele sieht es auch mit der Kundschaft nicht gut aus. Die angrenzenden Geschäftsbezirke sind noch immer ausgestorben, die Lunches, After-Work Dinner und Einkaufsspritztouren in Chinatown bleiben aus. Die Angst vor China, die Trump bereits zum Anfang der Coronakrise geschürt hat, tut ihr Übriges.
Auf seinen letzten paar Hundert Metern, bevor er an den Säulen des alten Zollhauses endet, spült uns der Broadway vorbei am Rathaus und durch die Schlucht der Helden, jener Handvoll Häuserblocks im unteren Manhattan, auf denen die Stadt herausragende Persönlichkeiten mit den berühmten Konfettiparaden der Stadt ehrt. John F Kennedy wurde hier ebenso empfangen wie Nelson Mandela und zuletzt, im vergangenen Jahr, die US Fußballnationalmannschaft der Frauen.
Links ab geht es in die Wall Street, dem vermeintlichen Epizentrum des amerikanischen Kapitalismus. Doch wie an so vielen Orten der Stadt ist es so, als habe hier jemand die Pausentaste gedrückt.
Der Platz ist leer gefegt, nicht einmal der Hot Dog Verkäufer an der Ecke hat auf. Auf den Stufen der Federal Hall gegenüber der Börse, an der Stelle, an der 1789 George Washington als erster Präsident der USA vereeidigt wurde, sitzt ein junger Börsenmakler in Flip Flops und Shorts und wartet auf seine Schicht. Wegen Covid ist der Parkettbetrieb eingeschränkt, die Makler dürfen immer nur für ein paar Stunden in das Gebäude.
Neben ihm steht ein älterer Herr in einer wollenen Schiebermütze, die ihn aussehen lässt, wie ein Gewerkschaftler aus den 50er Jahren. Er hält ein Schild mit den Worten „I have a dream“ hoch, mit dem er daran erinnern möchte, das Martin Luther King heute vor 57 Jahren seine berühmteste Rede mit dem gleichen Titel gehalten hat.
Die beiden unterhalten sich ein wenig über Bürgerrechte und Polizeigewalt, über die Hausse an der Börse und die Not im Land und über die Zentrifugalkräfte, die Amerika zu zerreißen drohen. Dann schlurft der Trader in Sandalen zurück auf sein Parkett und der Mann mit der Schiebermütze stellt sich wieder auf die Treppe und beginnt die Rede zu rezitieren, mit welcher der große Bürgerrechtskämpfer 1963 in Washington das Land an seine Ideale gemahnen wollte.
„Es wäre fatal für diese Nation, die Dringlichkeit dieses Augenblicks zu übersehen“, hallt es über den leeren Platz. „Der siedende Sommer der Unzufriedenheit wird nicht zu Ende gehen, wenn es keinen erfrischenden Herbst der Freiheit gibt.“ Ein junger Mann läuft mit einem Hund an der Leine vorbei und schaut den Redner kurz aus dem Augenwinkel an. Wovon dieser gerade redet, scheint sich ihm nicht so recht zu erschließen.